Seite:George Sand Indiana.djvu/171

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sage nicht, daß wir uns mit dem Ewigen aussöhnen müßten, das hieße den Abstand unterschätzen, der uns von seiner erhabenen Macht trennt; aber wir sollten uns mit den Menschen versöhnen, die uns Leiden bereitet haben, und dem Abendwind, welcher nach Nordwesten weht, Worte der Verzeihung für diejenigen anvertrauen, welche dreitausend Stunden von uns entfernt sind.“

„Ich fühle, daß ich ohne Selbstüberwindung verzeihen kann,“ sagte Indiana, „daß mein Herz weder Haß noch Liebe empfindet. Großer Gott, Du siehst in den geheimsten Grund meiner Seele; Du weißt, daß alle meine Gedanken Dir zugewendet sind.“

Ralph setzte sich jetzt zu Indianas Füßen und begann mit lauter Stimme zu beten. Der Todesstunde nahe, schüttete er sein ganzes Herz aus, die Fesseln, die es gedrückt hatten, lösten sich, die innere Glut, die er unter der Maske eisiger Kälte getragen, war jetzt kein Verbrechen mehr, der Schleier, welcher so viel Tugend, Seelengröße und Selbstverleugnung verborgen hatte, sank herab, und der Geist dieses Mannes erhob sich zur Höhe. Zum erstenmal gehorchte das Wort seinen Gedanken und der unbedeutende Mensch, der während seines ganzen Lebens kaum etwas gesprochen hatte, was sich über das Gewöhnliche erhob, entfaltete in seiner letzten Stunde eine überzeugende Beredsamkeit, wie Raymon sie nie besessen hatte. Für Ralph war jetzt der Augenblick da, er selbst zu sein, vor seinem Richter die Verkleidung abzulegen, welche die Menschen ihm aufgezwungen hatten. Der Ralph, den Indiana gekannt hatte, lebte nicht mehr, und der, den sie jetzt hörte, schien ihr ein Freund, den sie einst in ihren Träumen gesehen hatte, und der erst jetzt, am Rande des Grabes, für sie zur Wirklichkeit wurde. Sympathisch strömten die Gedanken und Empfindungen, die er aussprach, auf sie über, und Tränen frommer Begeisterung fielen aus ihren Augen auf Ralphs Locken.

Jetzt trat der Mond über die Wipfel der großen Palmbäume und sein Strahl fiel auf Indianas weißes

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George Sand: Indiana. Karl Prochaska, Leipzig [u.a.] [1904], Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:George_Sand_Indiana.djvu/171&oldid=- (Version vom 1.8.2018)