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Sechstes Kapitel.

Es waren vier oder fünf ehrwürdig aussehende Damen anwesend, welche Raymon in diesem Salon nicht erwartet hatte. Es war unmöglich, ein Wort zu sprechen, das nicht in allen Winkeln des Gemaches gehört wurde. Diese alten Betschwestern, welche Karten spielten, schienen nur da zu sein, um die Gespräche der jungen Leute unter ihre Zensur zu stellen, und in ihren strengen Zügen glaubte Raymon die geheime Freude des Alters zu lesen, welches eine Genugtuung darin findet, die Jugend in ihrem Vergnügen zu verkümmern. Raymon hatte auf eine vertraulichere Unterhaltung gerechnet, als der Ball erlaubte, und fand das Gegenteil. Diese unverhoffte Schwierigkeit gab jedoch seinen Blicken höheres Feuer, den einzelnen Fragen, die er an Frau Delmare richtete, größere Innigkeit. Das arme Kind war auf einen solchen Angriff gar nicht vorbereitet. Ihre Verlegenheit wurde durch Raymons Kühnheit vermehrt. Frau von Carvajal, welche den Geist des Herrn von Ramière hatte rühmen hören, verließ ihr Spiel, um mit ihm ein lebhaftes Gespräch über die Liebe anzuknüpfen, in welches sie viel spanische Leidenschaft und deutschen Idealismus einmischte. Indem Raymon in das von der Tante angeschlagene Gesprächsthema mit feuriger Beredsamkeit einging, sagte er der Nichte alles, was sie anzuhören sich geweigert haben würde. Die arme junge Frau gestand errötend, daß sie von diesen Dingen nichts verstände, und Raymon der trunken vor Freude, ihre Wangen sich färben und ihren Busen schwellen sah, nahm sich vor, es ihr zu lehren.

Indiana schlief diese Nacht noch weniger als die vorhergehenden. Ihr Herz war seit langer Zeit für ein Gefühl reif, das ihr keiner der Männer hatte einflößen können, die sie bisher kennen gelernt hatte. Von einem wunderlichen, heftigen Vater erzogen, hatte sie nie das Glück genossen, welches die Zuneigung eines

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George Sand: Indiana. Karl Prochaska, Leipzig [u.a.] [1904], Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:George_Sand_Indiana.djvu/30&oldid=- (Version vom 1.8.2018)