Seite:George Sand Indiana.djvu/77

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Jahre eines Tages die Wohnung seiner Eltern mit dem festen Entschlusse verlassen hätte, sich ins Meer zu stürzen; aber während er bereits auf der Klippe stand, sah er mich an der Hand meiner Amme, einer Negerin, auf sich zukommen. Ich war damals fünf Jahre alt. Ich war hübsch, wie man sagt, und fühlte gegen meinen schweigsamen Vetter eine Vorliebe, die niemand teilte. Beide unglücklich, verstanden wir uns bereits. Er lehrte mich seine Muttersprache und ich stammelte ihm in der meinigen vor. Als ich mich an seinen Hals warf, bemerkte ich, daß er weinte, und ohne zu wissen, warum, weinte ich auch. Dann drückte er mich an sein Herz und schwor, wie er mir seitdem erzählt hat, für mich, das verlassene Kind, zu leben und zu sterben. Ich war also das erste und einzige Band in seinem traurigen Dasein. Seit diesem Tage trennten wir uns fast nie mehr; wir brachten unsere Tage frei und froh in der Einsamkeit der Gebirge zu. Ralphs älterer Bruder, Edmund Brown, starb mit zwanzig Jahren; seine Mutter folgte ihm aus Gram und sein Vater war untröstlich. Gern hätte Ralph seinen Schmerz gemildert, aber die Kälte, mit welcher diese Versuche zurückgewiesen wurden, vermehrte nur seine natürliche Schüchternheit. Ganze Stunden brachte er düster und schweigend bei diesem trostlosen Greise zu, ohne zu wagen, ein liebevolles Wort an ihn zu richten, so sehr fürchtete er, ihn durch einen ungeschickt angebrachten Beweis von Zärtlichkeit zu erzürnen. Der arme Ralph war seit Edmunds Tode unglücklicher denn je, er wurde nach wie vor verkannt. Ich war sein einziger Trost.“

„Ich kann ihn nicht beklagen, was Sie auch sagen mögen,“ unterbrach sie Raymon; „aber ein Punkt in seinem und Ihrem Leben bleibt mir unerklärlich: Warum hat er Sie nicht geheiratet?“

„Als ich im heiratsfähigen Alter stand, war Ralph zehn Jahre älter als ich, und das ist ein ungeheurer Abstand in unserem Klima, wo die Jugend der Frauen so schnell verblüht. Auch war Ralph schon verheiratet.“

Empfohlene Zitierweise:
George Sand: Indiana. Karl Prochaska, Leipzig [u.a.] [1904], Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:George_Sand_Indiana.djvu/77&oldid=- (Version vom 1.8.2018)