flüchtete sich unter das Porträt Ralphs, als wenn sie sich in den Schutz dieses ernsten Mannes mit der reinen Stirn, den ruhigen Lippen, begeben wollte. Raymon riß sie gewaltsam von ihrem Zufluchtsorte hinweg. „Ich bin jetzt nicht mehr dein Sklave oder dein Freund,“ rief er. „Ich bin nur noch ein Mann, der dich wahnsinnig liebt und dich, die launenvolle, grausame, aber doch schöne und angebetete Frau in seinen Armen hält. Mit Worten der Sanftmut und des Vertrauens hättest du mein Blut bemeistern können. Aber du hast alle meine Leidenschaften aufgewühlt, aufgeregt, du hast mich unglücklich, feig, wütend gemacht. Verzeihung, Indiana, Verzeihung! Wenn ich dich erschrecke, ist es deine Schuld; du hast mir so viel Schmerz bereitet, daß ich die Vernunft verloren habe.“
Indiana zitterte an allen ihren Gliedern. „Das also ist die edle, reine Liebe, die Sie mir gelobt haben!“ sagte sie mit bitterem Vorwurf.
Er sank vor ihr nieder und klagte sie an, sie liebe ihn nicht.
„Raymon,“ sagte Indiana, sich plötzlich besinnend, „du warst vielleicht nicht so strafbar, als ich glaubte. Sage mir jetzt, warst du wegen mir gekommen, als ich dich hier in diesem Zimmer überraschte, oder wegen Noun?“
Raymon zauderte. Da er aber bedachte, Indiana würde bald hinter die Wahrheit kommen oder kenne sie vielleicht schon, antwortete er:
„Wegen ihr.“
„Gut!“ erwiderte sie mit traurigem Blicke. „Ich will lieber eine Untreue ertragen, als einen Schimpf. Sei stets aufrichtig, Raymon. Seit wann warst du in diesem Zimmer, als ich eintrat? Bedenke wohl, Ralph weiß alles, und wenn ich ihn fragen wollte …“
„Es bedarf der Angeberei des Sir Ralph nicht, Madame. Ich war seit dem vorhergegangenen Abend da.“
George Sand: Indiana. Karl Prochaska, Leipzig [u.a.] [1904], Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:George_Sand_Indiana.djvu/96&oldid=- (Version vom 31.7.2018)