Seite:Georgien. Natur, Sitten und Bewohner.pdf/114

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Fast alle nun folgenden Dichter versuchten es, den früheren Glanz Georgiens so blendend als möglich zu schildern und hörten nicht auf, mächtige Mahnrufe an ihre Landsleute zu richten. Der Fortschritt wurde ihr Ideal, für das sie den Schild erhoben und mit den Gegnern Lanzen brachen. Der erste Dichter, welcher sich der Vergangenheit zuwandte, war Gregor Orbeliani, eine edle, begeisterte Sängerseele. Erst vor zwei Jahren haben ihn die Georgier als achtzigjährigen Greis zu Grabe geleitet und die Trauer, welche sein Tod im ganzen Vaterlande hervorrief, war der beste Beweis für seine ächt nationale Wirksamkeit als Schriftsteller. In Allem war Orbeliani noch ein Georgier der patriarchalen Zeit und wenn er auch mitunter seine Landsleute zum Fortschritte ermahnt, so thut er dies doch mit väterlicher Milde und greift nie zum bittern Vorwurfe. Der Kampf war ihm in dieser Hinsicht fremd und mit Liebe hing er noch am Althergebrachten. Seine fast durchweg lyrischen Gedichte zeichnen sich durch eine erhabene, malerische Sprache und seltene Gefühlskraft aus.

Weihevoll und feierlich sind seine Gedichte, in denen er des Vaterlands Vergangenheit besingt und seine entschwundene Grösse betrauert:

Vor dem Bildnis der Königin Tamara.

Mit einem unaussprechlich heil’gem Schauer
Blick ich dein Bild an, edle Königin,
Und demutsvoll ich mich vor dir verneige.
Denn Ehrfurcht flösst mir ein dein hehrer Sinn.

Ich freue mich, dass ich dein Antlitz schaue
Und möchte nimmer mehr von dannen gehn,
Denn hier ich die Erniedrigung vergesse,
In der ich heut’ Georgien muss sehn.

Verwelkt ist längst dein einst so blühender Garten
Seitdem erloschen deiner Grösse Strahl.
Ja, seine Schönheit ist nicht mehr dieselbe
Und aufgedrückt hat ihm die Zeit ihr Mal.

Empfohlene Zitierweise:
Arthur Leist: Georgien. Natur, Sitten und Bewohner. Verlag von Wilhelm Friedrich, Leipzig 1885, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Georgien._Natur,_Sitten_und_Bewohner.pdf/114&oldid=- (Version vom 1.8.2018)