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heute noch, obgleich sich ihre Bedeutung und ihre gegenseitigen Beziehungen sehr verändert haben, denn der höhere wie der niedere Adel besitzt heute keine Vorrechte mehr und die Bauern sind nun nach ihrer im Jahre 1862 erfolgten Ablösung vom Frohndienste, freie Gutsbesitzer.

Als Georgien aufhörte ein selbständiger Staat zu sein, sah sich seine Gesellschaft plötzlich in ganz neue und ihr völlig fremde Verhältnisse versetzt. Der Adel hatte jetzt seinen eigentlichen Beruf verloren, denn seine Thätigkeit als Rittergenossenschaft war überflüssig geworden. Daher ergab er sich nun dem Müssiggange und wohnte grösstenteils auf seinen Landgütern, von einer zahlreichen Dienerschaft umringt und von den Arbeitsfrüchten seiner Sklaven lebend. Das Dasein der letzteren war oft bedauernswert, denn neben verschiedenen Lasten des Frohndienstes hatten sie noch viele Bedrückungen von Seiten ihrer Herren zu ertragen.

Ein grosser Teil des Adels kümmerte sich um nichts, was in der Welt vorging und hatte selbst die frühere Blütezeit der Heimat vergessen, denn wenn er auch der Vergangenheit oft erwähnte, so kannte er sie nur als eine Zeit des Krieges und ewigen Waffengeklirrs. Es war das also eine Gesellschaft ohne Strebsamkeit, eine Gesellschaft, die ein in jeder Hinsicht zielloses Leben führte, dessen Gang sich im alten, patriarchalischen Geleise hinschleppte und höchstens von geräuschvollem Gelage unterbrochen wurde. In Hinsicht des Vergnügens und der Unterhaltung war der damalige Georgier keineswegs wählerisch und seine Anforderungen waren in dieser Beziehung höchst bescheiden. Ein üppiges Mahl, benetzt mit Kachetinerwein, dann ein Mittagsschläfchen, Jagden und Besuche in der Nachbarschaft waren Alles für ihn; andere Vergnügen konnte er nicht haben und verlangte sie gewöhnlich auch nicht. Er kannte weder Theater, Konzerte oder Zeitungen noch sonst eine von höherer Kultur zeugende Unterhaltung.

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Arthur Leist: Georgien. Natur, Sitten und Bewohner. Verlag von Wilhelm Friedrich, Leipzig 1885, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Georgien._Natur,_Sitten_und_Bewohner.pdf/56&oldid=- (Version vom 1.8.2018)