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Übergangsphase; zahlreiche seiner einst wohlhabenden Edelleute und Gutsbesitzer verlassen die Scholle und ziehen in die Städte, in welchen sich infolge dessen ein immer stärkerer Bürgerstand ausbildet. Dieser wird vielleicht einst die Seele des ganzen Volkes werden und die Führerschaft des nationalen Kulturlebens übernehmen, bis heute jedoch ist davon noch keine Rede. Die gebildetere georgische Gesellschaft besteht gegenwärtig noch überwiegend aus Leuten, die dem Adel angehören, während in ihr der Bürgerstand bei weitem die Minderheit bildet. Übrigens existiert hier weder im öffentlichen noch im gesellschaftlichen Leben jener Standesunterschied, der in Europa soviel Zerwürfnisse verursacht und im Allgemeinen lässt sich eine lobenswerte Gemeinschaftlichkeit beobachten. Bildung und Verdienst bedeuten in Georgien mehr als ein leerer Titel und wenn sich mitunter bei einzelnen Individuen wirklicher Adelsstolz zeigt, so wurde dieser wahrscheinlich im hoch zivilisierten Europa erworben.

Nur Dank dieser Eintracht konnte sich der Fortschritt entwickeln, dessen sich die Georgier bereits erfreuen, denn in einem kaum eine Million Köpfe zählenden Volke hat jeder Einzelne schon etwas zu bedeuten. Mit jeder öffentlichen Angelegenheit, sei sie intellektueller oder materieller Natur, beschäftigt sich gewöhnlich die gesamte Intelligenz gemeinschaftlich und persönliche Zwiste werden in solchen Fällen fast immer bei Seite geschoben. Auch giebt es bis heute unter den Georgiern keine eigentlichen Parteien und wenn auch zwischen den Anhängern des Fortschritts und denen des Althergebrachten eine gewisse Kluft besteht, so ist diese jedoch nicht so gross, dass sie im Falle der Notwendigkeit unübersteiglich wäre. Dem Vereine für Hebung der Volksaufklärung gehören Leute aus allen Schichten der Gesellschaft an und obgleich sie in ihren Überzeugungen mitunter sehr von einander abweichen, ist doch die Wirksamkeit dieses Vereins eine einmütige

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Arthur Leist: Georgien. Natur, Sitten und Bewohner. Verlag von Wilhelm Friedrich, Leipzig 1885, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Georgien._Natur,_Sitten_und_Bewohner.pdf/61&oldid=- (Version vom 1.8.2018)