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und wie Sträusse von Schneeblumen gaukeln über diesem Farbenspiele die weissen Kämme der Wogen.

Auf der andern Seite der Bahn erheben sich grüne Berge, die uns mächtig zu sich locken, hinauf auf ihre Gipfel, wo riesige Bäume ihre Laubkronen im frischen Winde wiegen. Zwischen den Bergen lachen freundliche Thäler, die in einem immergrünen Pflanzenschmucke prangen, denn die zartesten Gewächse des Südens gedeihen hier ohne Pflege und bedecken frei und wild die Bergabhänge.

Endlich entschwindet das Meer unsern Blicken und wir gelangen in einen schönen Wald, dessen undurchdringliches Dickicht einem Urwalde gleicht und ohne Zweifel ist dieses grüne Labyrinth noch nie in seinem ganzen Umfange von Menschenhand berührt worden. Alte, mächtige Riesen stehen hier neben jungen frisch emporschiessenden Zwergen, überall wuchert Grün hervor, überall blüht es und selbst die Stämme und Äste der Bäume sind bis in die Wipfel hinauf mit Schlingpflanzen berankt. Dazwischen liegen modernde Stämme am Boden, die wohl keine Menschenhand gefällt, sondern das Alter gebrochen haben mag und über sie hinweg wuchert ein neues Pflanzengeschlecht, die alten Baumleichen mit seinem frischen Laube bedeckend. An Stellen, wo die Bäume fehlen, bedeckt dichtes Gestrüpp den Erdboden oder Tausende von riesigen Farrnkräutern, deren Kronen sich zwischen Gräsern und Blumen wiegen.

Inmitten dieser Waldherrlichkeit flöten hunderte von Nachtigallen ihr nie ausgesungenes Lied, und so laut sind diese Flötentöne, dass wir trotz des Getöses, welches der dahinbrausende Eisenbahnzug verursacht, jeden ihrer Akkorde deutlich vernehmen.

Wir sind hier an der Grenze Guriens und Mingreliens, dem alten Kolchis, aus dem einst Jason das goldene Vliess und die Giftmischerin Medea holte. Eben steigen zwei Mingrelierinnen in unseren Waggon, die ersten Töchter

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Arthur Leist: Georgien. Natur, Sitten und Bewohner. Verlag von Wilhelm Friedrich, Leipzig 1885, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Georgien._Natur,_Sitten_und_Bewohner.pdf/7&oldid=- (Version vom 1.8.2018)