Europa einen Vorrat von etwa 4000000 Büchern ergeben würde, so greift er viel zu niedrig. Hain führt in seinem Repertorium 16299 bis dahin gedruckte Werke an. Indessen ist auch diese Zählung nicht hoch genug, denn einmal sind viele hundert, wenn nicht viele tausend Bücher bis auf ihre letzte Spur der Nachwelt verloren gegangen, dann aber seit Hains Tode auch Tausende wieder aufgefunden worden, sodaß man die Gesamtzahl ohne Übertreibung auf wenigstens 25000 Druckschriften veranschlagen kann, von welchen etwa sechs Siebentel aus scholastischen und religiösen Werken bestehen. Von der Linde berechnet die noch vorhandenen Bücher und Flugschriften sogar auf mehr als 30000 selbständige Stücke. Ebenso sind die Auflagen viel höher zu berechnen, als man, nach den Nachrichten betreffs einiger der ersten gedruckten Bücher urteilend, zu thun pflegt. Statt auf 300 Exemplare, wie Didot, kann man, wie der Verlauf dieser Darstellung nachweisen wird, die durchschnittliche Auflagehöhe auf mindestens 500 Exemplare, wenn nicht höher, annehmen. Natürlich umfassen die angegebenen Zahlen nicht allein die deutschen, sondern alle bis zum Jahre 1500 in Europa veröffentlichten Preßerzeugnisse. Überhaupt kennt der Buchhandel während des ganzen ersten Jahrhunderts seit der Erfindung der Kunst keine nationalen Unterschiede und Gegensätze. Seine dem deutschen Großhandel entnommenen Usancen sind ziemlich überall die nämlichen, die Sprache seiner Verlagsartikel ist fast durchgehends die lateinische, die Sprache der Kirche, der Litteratur, der Regierungen und der Gerichte, und schon im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts dient die frankfurter Messe als Centralpunkt für den europäischen Buchhandel überhaupt. Es ist deshalb auch kein Notbehelf, sondern ein Gebot der geschichtlichen Unparteilichkeit, wenn in der Folge, um eine buchhändlerische Erscheinung zu erklären, oder in das rechte Licht zu stellen, vorerst ebenso sehr auf französische oder italienische, als auf deutsche Verhältnisse verwiesen wird.
Man pflegt die bis zum Jahre 1500 gedruckten Bücher Inkunabeln oder Wiegendrucke zu nennen: eine willkürliche rein äußerliche Bezeichnung und Begrenzung, für welche es kaum innere Merkmale und Gründe gibt. Wenn z. B. Anton Koberger die Bibelerklärung des Kardinals Hugo schon von 1493 an vorbereitet und die sieben Folianten zwischen 1498 und 1502 drucken läßt, so wirft sich ganz natürlich die Frage auf, ob denn dieses Werk eine Inkunabel ist oder nicht, oder ob bloß diejenigen
Friedrich Kapp: Geschichte des Deutschen Buchhandels Band 1. Verlag des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler, Leipzig 1886, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_des_Dt_Buchhandels_1_05.djvu/002&oldid=- (Version vom 1.8.2018)