Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 071.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Entweder verwünscht der Vater selber im Unmut die Söhne zu Raben (nr. 25), oder eine böse Stiefmutter verhext die Kinder aus erster Ehe (nr. 49), oder die Schwester bringt unbewußt das Unheil über die im Waldhaus einsam lebenden Brüder (nr. 9), die der Vater zu töten gelobt hatte, falls ihm die ersehnte Tochter geboren würde.[1] Ein Unhold (Hexe, Vogel), der das Mädchen bedroht oder ihr Blut aus dem kleinen Finger saugt, wird zwar von den Brüdern erschlagen, aber aus dem Grabe wachsen Blumen oder Kräuter, die vom Mädchen gepflückt die Brüder in Tiere verwandeln.[2] Um die Brüder zu entzaubern, darf die Schwester mehrere Jahre weder ein Wort reden noch lachen;[3] und das wird ihr noch schwerer, weil ein Prinz sie im Walde findet und als seine Gattin heimführt, sie aber sich gegen die Verleumdungen der Schwieger, sie habe ihre eben geborenen Kinder gefressen oder Hunde geboren,[4] mit keiner Silbe wehren kann; endlich in der höchsten Not erscheinen ihre Brüder, und ihr wird verstattet zu reden, weil die gesetzte Frist abgelaufen ist. Für diese Art der Erlösung tritt im Pentamerone eine Wallfahrt des Mädchens zur Mutter der Zeit ein, für die ihr verschiedene Leute Fragen mitgeben. Endlich gibt es auch Märchen, bei denen wie in unsrer nr. 11 ‘Brüderchen und Schwesterchen’ das Mädchen der Werbung des Prinzen folgt, ohne das Gebot der Stummheit erhalten zu haben, und die verwandelten Brüder mit sich führt. Da wird sie durch eine Hexe in den Abgrund gestoßen, und diese nimmt ihren Platz ein.

Eine Fassung aus Ostpreußen bei Lemke 2, 185 ‘Die zwölf Raben’ stimmt ganz zu der obigen. In einer österreichischen bei Vernaleken nr. 4 ‘Der schwarze Vogel’ saugt ein Rabe dem


  1. So in unsrer Erzählung, bei Sutermeister nr. 49, bei Berntsen, Kristensen 4, nr. 4, Sébillot 2, 158, Alcover; im norwegischen und irischen Märchen will die Mutter alle Söhne hingeben, wenn sie nur eine Tochter erhält. Bei Basile wünschen sich die Knaben eine Schwester, aber die Amme vertauscht die Zeichen am Fenster, Spindel und Rocken, die auch bei Andrews nr. 62 wiederkehren. Die rote Fahne, die in Wirnts Wigalois v. 6163 den Kampf auf Leben und Tod bezeichnet, erscheint auch bei Berntsen und Kristensen 4, nr. 4, eine schwarze im schweizerischen und ungarischen Märchen; die Zeichenvertauschung auch im bulgarischen und armenischen Märchen.
  2. Dieselbe Wirkung hat das Gift, das die Hexe dem Mädchen im maltesischen, baskischen und im italienischen Märchen aufschwatzt.
  3. Dazu kommt bisweilen das Nähen von Hemden wie in nr. 49.
  4. Vgl. oben S. 20 zu nr. 3.
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_071.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)