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Seite:GrosbergRussischeSchattenbilder.pdf/118

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Sestriza

Von der Parteien Haß und Gunst verwirrt, schwankt das Charakterbild der russischen barmherzigen Schwester, vertraulich-zärtlich „Sestriza“, Schwesterchen, genannt, in der Geschichte. Vielleicht liegt in diesem zärtlich-vertraulichen Diminutivum die Lösung des Sestriza-Problems, das beinahe ebenso unergründlich ist, wie die an lichten Höhen und dunklen Tiefen so überaus reiche russische Volksseele.

Nicht als strenge, nur auf eiserne Pflichterfüllung bedachte Schwester wünscht der Russe sich seine Pflegerin in schweren Leidensstunden, sondern eben als liebreiches, mitempfindendes Schwesterlein, das nicht nur die Leiden des siechen Körpers lindert, sondern auch für seelisches Weh Verständnis und Mitempfindung hat und bereit ist, Trost und milde Worte zu spenden, Heiterkeit und Frohsinn zu verbreiten und unter Umständen der strengen Ordnung der Lazarette und den beaufsichtigenden gestrengen Herren Ärzten ein Schnippchen zu schlagen.

Es ist nicht unmöglich, daß die Sestriza hin und wieder ihre Pflichten nicht so erfüllt, wie es sich gehört, daß sie nachlässig ist, oder im Nebenzimmer plappert, während sie eigentlich die Verbände wechseln sollte, oder daß sie gar ein oder das andere Mal einfach ausbleibt und ihre Pflichten ohne vorherige Meldung einem gütigen Zufall in der Person des bärbeißigen Feldschers überläßt.

Solche Fälle sind nicht unmöglich, aber dafür bekommt Sestriza es fertig, Tage und Nächte am Lager eines Verwundeten

Empfohlene Zitierweise:
Oskar Grosberg: Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution. C. F. Amelang, Leipzig 1918, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:GrosbergRussischeSchattenbilder.pdf/118&oldid=- (Version vom 1.8.2018)