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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

sondern immer noch das Musterland höchstentwickelter Selbstverwaltung ist, während die anderen behaupten, dass die deutsche, insonderheit die preussische Gestaltung jenes Urbild längst überflügelt habe.

So der status causae et controversiae.

Dieser Status ist deshalb so hoffnungslos, weil die Vertreter der verschiedenen Meinungen an einander vorbei argumentieren; und dafür wieder liegt der Grund, wie so oft, darin, dass die einen für eine logische Kategorie halten, was die andern als historische Kategorie erkennen. Das gilt hier nicht von dem Begriff der Selbstverwaltung an sich, wohl aber von dem Begriff des „Staates“, an dem jener beständig gemessen wird. Und eben dieser Masstab ist die Ursache der ganzen Verwirrung; denn das, woran gemessen wird, ist keine fest bestimmte Grösse, vielmehr etwas weit variableres, als das, was daran gemessen werden soll.

So erklärt sich auch der tiefe Gegensatz, der schlechtweg als inkommensurabel erscheint, zwischen den englischen und den kontinentalen, insonderheit den deutschen Verhältnissen. In der Heimat des „selfgovernment“ bleibt jener ganze Kontroversenknäuel über den „Begriff der Selbstverwaltung“ vollständig unbegreiflich, wie man ja in der Heimat des parlamentarischen Konstitutionalismus manche fine fleur unseres konstitutionellen Staatsrechts, etwa die Lehre vom „Gesetz in materiellem und formellem Sinn“, nicht begreift; wie man in dem Weltreich, das die verschiedenartigsten Gemeinwesen in den mannigfachsten Eingliederungsverhältnissen umfasst, auch unsere dogmatischen Schmerzen wegen des Bundesstaatsbegriffs und des Wesensunterschiedes von „Staat“ und „Gemeinde“ nicht versteht.

Wort und Prinzip der heutigen deutschen Selbstverwaltung wurden in bewusster Anlehnung an das Wort und das Prinzip des englischen selfgovernment gebildet. Aber schon das Wort erfuhr in der Übertragung eine vermutlich unbewusste Einschränkung; denn „Verwaltung“ ist enger als „government“. Dem entspricht die Einschränkung des Prinzips und zwar eine qualitative Einschränkung. Beiden gemeinsam ist der Gegensatz zu der Beamtenregierung des absolutistischen Obrigkeitsstaates; völlig verschieden aber ist hüben und drüben die Austragung dieses Gegensatzes. In England hat eine in Jahrhunderten konstante Entwickelung das Prinzip des selfgovernment auf allen Stufen des Gemeinlebens völlig an die Stelle obrigkeitlicher Beamtenregierung gesetzt. Wie das nationale Gemeinwesen sich durch sein parlamentarisches Organ und dessen Mehrheitsausschuss selbst regiert: national government, so regieren sich die kommunalen Gemeinwesen durch ihre Repräsentanten und deren Ausschüsse selbst: local government. Die technische Arbeit der Berufsbeamten, die stets erforderlich war und neuerdings in erweitertem Umfange erforderlich ist, wird in den Dienst der regierenden Politiker gestellt; der Berufsbeamte ist Techniker, nicht Obrigkeit – im Staat wie in der Gemeinde. Gewiss ist die kommunale Verwaltung in einem uns befremdenden Masse an Parlamentsakte gebunden; aber dasselbe gilt von der Staatsverwaltung. Es ist eine durchaus einheitliche Struktur.

In vollem Gegensatz hierzu zeigt die deutsche Struktur das Bild eines ungelösten Dualismus. Das Prinzip des selfgovernment hat zwar in die obrigkeitliche Beamtenregierung manche Bresche gelegt in Gestalt des staatlichen Konstitutionalismus wie der kommunalen Selbstverwaltung; aber es hat sich keineswegs an ihre Stelle zu setzen vermocht, und zwar im Staate noch weniger als in der Gemeinde. Von einem „national selfgovernment“ ist trotz der konstitutionellen Verfassungen weder in den Einzelstaaten noch im Reiche zu reden. Dort steht die alte Obrigkeitsorganisation der Beamtenhierarchie immer noch als „Regierung“ der „Volksvertretung“ nicht bloss selbständig, sondern trotz der abweichenden theoretischen Konstruktion als eigentliche Verkörperung des „Staates“ gegenüber. Und im Reiche, wo die historische Tradition des alten Obrigkeitsstaates fehlt, wird sie durch die verfassungsmässige Stellung der „verbündeten Regierungen“ ersetzt! Eben jene obrigkeitliche Beamtenregierung ist denn auch in Wahrheit der „Staat“, mit dessen „Wesen“ ein wirkliches local selfgovernment unvereinbar, und höchstens unter mannigfachen Reibungen eine beschränkte kommunale Selbstverwaltung zu verbinden ist. Daraus ergeben sich in der Praxis die ständigen Grenzverschiebungen zwischen staatlicher Aufsicht über die kommunale Tätigkeit und hierarchischer Subordination der kommunalen unter die staatlichen Verwaltungsbehörden. Daraus ergeben sich in der Theorie alle jene Probleme über das Wesen der Selbstverwaltung

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/220&oldid=- (Version vom 26.7.2021)