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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

in Sachsen der erste Bürgermeister, in Baden und Oldenburg sämtliche Ratsmitglieder in gemeinschaftlicher Sitzung beider Kollegien; in Hannover werden die Senatoren vom Senat und einer gleichen Anzahl „Bürgervorsteher“ auf Lebenszeit gewählt. Die Wahl geschieht unmittelbar durch die Bürgerschaft: in Schleswig-Holstein aus drei von einem Präsentationsausschuss vorgeschlagenen Kandidaten, in Württemberg und Weimar. In Frankfurt a. M. wird der erste Bürgermeister aus 3 von den Stadtverordneten präsentierten Kandidaten vom König ernannt. Der zweite Bürgermeister bedarf dort der staatlichen Bestätigung; ebenso die beiden Bürgermeister in Schleswig-Holstein. Der Entwurf von 1876 hatte die Bestätigung allgemein auf die Bürgermeister beschränken wollen; jedoch ist es nach dem Scheitern dieses Entwurfes bei der staatlichen Bestätigung sämtlicher Magistratsmitglieder in allen anderen preussischen Provinzen geblieben; und zwar für 1. und 2. Bürgermeister in Städten von mehr als 10 000 E. durch den König, sonst durch den Regierungspräsidenten. Dass letzterer die Bestätigung nur mit Zustimmung des Bezirksausschusses versagen kann, hat kaum mehr als dekorative Bedeutung, da die verweigerte Zustimmung vom Minister des Innern „ergänzt“ werden kann. In den meisten andern deutschen Staaten ist das Bestätigungsrecht auf die Bürgermeister beschränkt, in Bayern auf die rechtskundigen Magistratsmitglieder. In Württemberg ist das auf die Ortsvorsteher beschränkte Bestätigungsrecht an bestimmte Versagungsgründe gebunden; und Baden endlich hat den grossen Wurf gewagt, auf dies alte Institut überhaupt zu verzichten, ohne dass schreckliche Folgen bekannt geworden wären.

Die Beibehaltung des Bestätigungsrechts ist mit der Übertragung „staatlicher“ Kompetenzen, insonderheit der Polizei, zu begründen versucht worden. Diese Begründung versagt – abgesehen von der petitio principii der „staatlichen“ Natur jener Funktionen – in der grossen Mehrzahl der Fälle, in denen die betreffenden Stellen mit den angeblich „staatlichen“ Funktionen gar nicht betraut sind. In Wahrheit liegt dem ganzen Institut das angeborene Misstrauen des obrigkeitlichen Beamtenstaats gegen die freie bürgerliche Selbstbestimmung zugrunde; wie im alten System hält er es für die natürliche Pflicht der Obrigkeit, die „Eignung der gewählten Subjekte für ihre Stellen“ nachzuprüfen. Es ist also ein immanenter Widerspruch gegen den tragenden Grundgedanken der Selbstverwaltung. Völlig unvereinbar mit ihrem Prinzip wie mit dem des Rechtsstaats ist aber das freie Ermessen in der Versagung der Bestätigung ohne Angabe von Gründen. Wenn dafür geltend gemacht wird, dass niemand ein Anrecht auf ein bestimmtes Amt habe, und man also keine Gründe für die Nichternennung verlangen könne, so zeigt dies eine völlige Verkennung der rechtlichen Natur der Bestätigung. Denn diese ist kein Residuum der Ernennung; die Berufung der Person ist durch die Wahl geschehen; und die Bestätigung ist ein Mittel der Staatsaufsicht über die kommunale Selbstverwaltung, also ein staatlicher Eingriff in die Rechtssphäre der Gemeinde. Als solcher bedarf er aber nach dem Grundprinzip des Rechtsstaates der gesetzlichen Determinierung seiner Voraussetzungen und der Möglichkeit einer Nachprüfung seiner Rechtmässigkeit im Wege der Rechtsprechung.

Das Gleiche gilt von den sonstigen Mitteln der staatlichen Kommunalaufsicht, zu denen auch die Genehmigung von Ortsstatuten und dergl. gehört; es gilt vor allem aber von der Staatsaufsicht als Ganzem. Eine gesetzlich ungemessene Aufsicht ist tatsächlich die Aufhebung der Selbstverwaltung, an deren Stelle sie eine Oberleitung der kommunalen Verwaltung durch die Staatsbehörden setzt. So werden aus den Aufsichtsbehörden in Wirklichkeit „vorgesetzte“ Behörden und aus den Organen kommunaler Selbstverwaltung, „subordinierte“ Staatsbehörden. Diese Vertauschung von Aufsicht und Subordination ist das chronische Leiden der deutschen, vor allem der preussischen Selbstverwaltung. Es wurzelt zunächst in der erblichen Belastung durch die immanente Denkart des obrigkeitlichen Bureaukratismus, der sich ein Behördensystem gar nicht anders vorzustellen vermag, als in der Gestalt einer von oben nach unten abgestuften Hierarchie „vorgesetzter“ und „nachgeordneter“ Amtsstellen. Im begrifflichen Gegensatz hierzu steht das Wesen der Selbstverwaltung, das die kommunalen Funktionen der Zuständigkeit und also auch der Verantwortlichkeit staatlicher Behörden entzieht. Hier tritt das kommunale Willenszentrum an die Stelle des staatlichen, und damit ein eigenes System von Verantwortlichkeiten und Subordinationen. Weil die Gemeinde dem Staate eingegliedert ist, hat

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 217. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/237&oldid=- (Version vom 28.7.2021)