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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Kriminalistisches. Man macht sie dazu, indem man sie dem Leben entfremdet. Jedes Strafurteil sollte dem klar Denkenden, gesund Empfindenden, der teil hat an unserm Kulturleben, fassbar sein, wie wir wünschen müssen, dass der Schuldige es innerlich anzunehmen vermag. Leider gehört das Gegenteil vermöge unserer fehlerhaften Gesetzgebung und der vielfach in Scholastik ausgearteten Strafrechtswissenschaft zu den alltäglichen Erlebnissen. Das aber ist gewiss kein Grund, um den Laien von der Beurteilung der ihm zum mindesten in seiner menschlichen Seite durchaus fassbaren Strafsache auszuschliessen. Im Gegenteil, er wird in seiner natürlichen, einfachen Auffassung der Dinge gegenüber dem sogen. juristischen Verstand zum gesunden Korrektiv. So kann man ihn zum mindesten überall da, wo nicht die spezifische Rechtsfrage gestellt wird, wo es sich um Tat, Schuld und deren Abmessung handelt, als Strafrichter sehr wohl verwerten. Ja, man soll und muss es tun.

Die Volkstümlichkeit des Rechtes ist eines der höchsten rechtspolitischen Ziele. Sie kann nicht sein ohne Vertrauen des Volks in die Rechtsprechung. Daher ist es ein unabweisbares Postulat im konstitutionellen Staate, der dem Volk die Mündigkeit zuerkennt, es an der Rechtsprechung überall da zu beteiligen, wo es ohne Schaden, ja mit Vorteil für die Justiz geschehen kann.

V. Wie kann das geschehen? Zunächst durch eine Selektion der Laienrichter, die den oben angedeuteten Gefahren begegnet und möglichst geeignete Kräfte für den Richterdienst heranzieht. In Deutschland verfährt man dabei nicht wie in Frankreich nach einem System des Zensus und der Kapazitäten, sondern sucht auf demokratischer Basis Gewähr durch die Auswahl eines Vertrauensmänner-Ausschusses. Aber man begibt sich wichtigen Materials, wenn man, wie bisher, Volksschullehrer vom Schöffen- und Geschworenendienst ausschliesst. Und wie soll das Gericht gebildet werden? In der Art der Schöffen- oder der Geschworenengerichte? In der Jury verkümmert das Richteramt des Laien, wird ihm die Strafzumessung und jeder Einfluss auf die Gestaltung des Urteilsstoffs entzogen, wird die einheitliche Richteraufgabe widernatürlich und unlogisch zerrissen, entsteht die unerschöpfliche Fehlerquelle der Rechtsbelehrung, der Fragestellung und des Mangels geistiger Kommunikation der geschiedenen Urteilsfaktoren: der Geschworenen und der Richter. Der angebliche Gewinn der völligen Freiheit der Jury ist Illusion oder doch zu teuer erkauft. Im einheitlichen Schöffenkollegium sind alle diese Fehler vermieden, kommt der Laienrichter vollwertig zur Geltung, sichert man ihm überdies die Mehrheit, so dass es nur von ihm abhängt, wie viel seine Stimme gilt. Zur Selbstzucht des Richters gehört, von dem Schöffenelement Nutzen zu ziehen und es nicht zu unterdrücken. – Überdies eignet sich nur das Schöffengericht zum Berufungsgericht, während das Geschworenengericht mit seinem Orakelspruch sogar jede Berufung unmöglich macht und die Revision wesentlich verengert.

So gehört neben der Verwendung des Einzelrichters und des Reichsgerichtes die Zukunft dem Schöffengericht in allen erstinstanzlichen Strafsachen, – und in der Berufungsinstanz.



Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/350&oldid=- (Version vom 22.11.2023)