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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Wenn „politische“ Betrachtungsweise diejenige ist, die die Einzelerscheinungen des menschlichen Gesamtlebens, soweit sie menschlicher Gestaltung zugänglich sind, mit der idealen Gestaltung des Staates vergleicht und sie unter diesem Gesichtspunkt wertend dem Ideal anzupassen bestrebt ist, so ist es selbstverständlich, dass sich auch die Strafrechtspflege solcher Betrachtungsweise nicht entziehen kann. Den politischen Gesichtspunkt an die Strafrechtspflege heranbringen heisst also diese letztere deskriptiv-kritisch derart würdigen, dass das „Soll“-Ergebnis dieser Würdigung im Einklang steht mit dem politischen Gesamtideal. Unvermeidlich ist, dass sich auch auf diesem engbegrenzten Gebiete die Geister nach ihrer politischen Gesamtauffassung scheiden müssen. Starke Betonung des Werts des Individuums, der Würde der Persönlichkeit, der einbruchssicheren Privatsphäre wird gerade für den Strafprozess eine ganz andere Ausgestaltung bedingen, als eine sozialistische Grundauffassung jener Art, die den Wert des Einzelnen nichts oder nur wenig gelten lässt, wo Gesamtheitsinteressen gegen das Einzelinteresse anlaufen. Ein auf individualistischen Grundton gestimmter Strafprozess wird dahin neigen, den Beschuldigten ganz wie den Beklagten im Zivilprozess zu stellen, ihn von jeder Auskunftspflicht zu entbinden, seine Anwesenheit nicht durch Untersuchungshaft zu erzwingen, ihn zum Eide zuzulassen, die Verteidigung in weitesten Grenzen freizugeben, ein Manko an Beweis stets zu Gunsten des Beschuldigten ausschlagen zu lassen, Rechtsmittel gegen das gesprochene Urteil in möglichster Breite zu eröffnen und dabei auch der Rechtskraft möglichst wenig einengende Bedeutung zu verleihen, vielleicht sogar das gesamte Rechtsmittelsystem lediglich dem Verurteilten zur Verfügung zu stellen und dem Kläger zu versagen. Ein solcher Strafprozess wird aber auch ungern Dritte in Mitleidenschaft ziehen, demnach nicht nur Beschlagnahme- und ähnlichen Zwang gegen sie vermeiden, sondern auch die Ablehnung einer Zeugenaussage im Hinblick auf private Interessen des Dritten möglichst weit zulassen. Ein aus sozialistischer Grundauffassung erwachsener Strafprozess wird umgekehrt Erscheinungs- und Geständnispflicht des Beschuldigten normieren, die Untersuchungshaft zur voraussetzungslosen Regel machen (wie es der vormalige Militärstrafprozess tat), die Folter – solange sie nicht als untaugliches Mittel zur Erzielung wahrheitsgemässer Geständnisse erkannt ist – gegen den leugnenden Beschuldigten anwenden, die Verteidigung in bescheidene Grenzen bannen, das gesprochene Urteil und gar erst das rechtskräftige gegen Anfechtung durch den Beschuldigten schützen und womöglich nur Prozesserneuerung zu Ungunsten des Beschuldigten gestatten usw., aber auch gegen Dritte die Schonung beiseite setzen, Sicherungszwangsmittel auch gegen sie ausspielen, Beweisverbote, die dem privaten Interesse dienen, ablehnen, ja sogar (wie das römische Recht) auch die Zeugen erforderlichenfalls unter die Folter stellen.

Aber auch der eigentliche parteipolitische Standpunkt wird folgerichtig für die strafjustizpolitischen Forderungen des Einzelnen richtunggebend sein, wie denn auch die Parteiprogramme zum Teil Punkte, die zur Strafjustiz gehören, berühren, und jeweils die Strafprozessvorlagen in den Parlamenten eine itio in partes nach rechts und links ausgelöst haben. Konservative und liberale Grundauffassung haben z. B. verschiedene Haltung zur Folge gehabt in den Fragen nach Gestaltung der Verteidigung, in den Fragen nach Sicherstellung der Parlamentsgebäude und der Abgeordneten vor prozessualer Durchsuchung, Befreiung der Abgeordneten und der Zeitungsredakteure von der Zeugnispflicht usw.

Aber so sehr diese Zusammenhänge zwischen subjektiver Grundauffassung und den an die Strafrechtspflege zu stellenden Anforderungen vorhanden sind und Beachtung heischen, so erscheint doch der Versuch nicht aussichtslos, den Subjektivismus dadurch bis zu einem gewissen Grade zu überwinden, dass die der Strafrechtspflege immanenten Bedürfnisse, Notwendigkeiten und Möglichkeiten zum Ausgangspunkte genommen, dann erst die auftretenden Werte und Gegenwerte in Rechnung gestellt werden, und dadurch der Doktrinarismus der subjektiven Prinzipien ausgeschaltet wird. Nicht, als ob bei einem methodischen Vorgehen solcher Art die fundamentalen politischen Strebungen als gänzlich bedeutungslos beiseite geschoben werden könnten: sie melden sich auch so an der Stelle zum Worte, wo die Werturteile einsetzen. Aber diese Werturteile werden anders ausfallen und grösseren Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben können, wenn die „Prinzipien“ auf ihr Passen und ihre Fruchtbarkeit hin an der Eigenart der Strafrechtspflege gemessen werden, als wenn umgekehrt diese lediglich vor den Richterstuhl der „Prinzipien“ gestellt wird.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 354. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/374&oldid=- (Version vom 14.8.2021)