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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Amt diskreditieren, überdies das Forum geradezu mit Notwendigkeit zu einer Stätte hässlichsten Parteikampfs machen. Nutzen hätte davon nicht die Gesamtheit, die vielmehr daran interessiert ist, dass keine Märtyrer einseitigen Klageeifers der Behörden geschaffen werden, und nicht der Beschuldigte.

4. Für die Stellung des Beschuldigten ist heute anerkannt, dass sie als die eines verteidigungsberechtigten Subjekts, nicht als die eines Inquisitionsobjekts auszuprägen ist. Keine Aussage-, geschweige denn Geständnispflicht. Gewährleistung voller Selbstverteidigung wie einer Verbeistandung durch Verteidiger. Diskutabel der Vorschlag, eine der Staatsanwaltschaft korrespondierende staatsamtliche Verteidigerschaft einzurichten.

5. Die grundsätzliche Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen bedarf heute keiner Rechtfertigung mehr. Seltsamerweise bestehen aber heute zum Teil unklare Auffassungen über die Konsequenzen des Öffentlichkeitsprinzips. Es sind gelegentlich Verurteilungen von Zeitungsredakteuren wegen Beleidigung des Angeklagten erfolgt, wenn die Zeitung wahrheitsgemäss über Vorgänge der Verhandlung (insbesondere über Zeugenaussagen mit einem dem Angeklagten ungünstigen Inhalt) berichtet hatte. Das ist mit dem Öffentlichkeitsprinzip unvereinbar, denn dieses ordnet gerade ausgesprochenermassen zahlreiche Interessen, darunter in erster Linie das Ehrinteresse des Beschuldigten, dem Interesse am Einblick der Allgemeinheit in die Vorgänge der Verhandlung unter. Unter dem Gesichtspunkt der Beleidigung kann deshalb die Übermittelung der Kenntnis von den Vorgängen an die Öffentlichkeit zum mindesten nicht rechtswidrig sein. Ob die Freiheit der Zeitungsberichterstattung, die ja unzweifelhaft auch eine unerfreuliche Seite hat (Sensationspresse), durch Rechtsmassregeln beschnitten werden soll, mag hier auf sich beruhen bleiben; jedenfalls sollte nicht übersehen werden, dass die Verkürzung dieser Freiheit das Öffentlichkeitsprinzip einschneidend berührt.

6. Von den zahlreichen Problemen auf dem Gebiete des Beweisrechts interessiert hier namentlich die Frage nach den Beweisverboten: Verbot des Hineinleuchtens in das Privatleben von Zeugen, Zeugnisweigerungsrechte von Abgeordneten, Redakteuren, Beamten, Schutz der Behörden und Parlamente vor Aufdeckung gewisser Tatsachen. Für die Würdigung dieser Fragen wird zunächst die Feststellung massgebend sein, dass, wenn Tatsachen infolge solchen Beweisverbots zweifelhaft bleiben, nach dem heute feststehenden Grundsatz „in dubio pro reo“ eine dem Beschuldigten günstige Entscheidung zu erfolgen hat, alle diese Beweisverbote also das Staatsinteresse, das für den Strafprozess charakteristisch ist, zu schädigen vermögen. Es wird also stets darauf ankommen, ob diese Schädigung lieber in den Kauf genommen werden soll, als eine Verletzung der entgegenstehenden Privat- und Staatsinteressen. Offenbar sollte bei solcher Abwägung die Schwere der betr. Strafsache ein gewichtiges Wort mitsprechen.

7. In ähnlicher Weise wird auch die Erstreckung oder Begrenzung des prozesspolizeilichen und des Sicherungszwangs (Untersuchungshaft, Beschlagnahme, Durchsuchung) je nach der Schwere der Strafsache abzustufen sein.

8. Die Einrichtung des Vorverfahrens ist heute in besonders hohem Masse strittig. Das Ziel der Entwickelung muss sein, das Vorverfahren als reines Selbstinformationsverfahren der Staatsanwaltschaft auszuprägen (dadurch auch Verminderung des Schreibwerks!), derart, dass das erkennende Gericht die Vorverfahrensakten nicht in die Hand bekommt. Dem Bedürfnis sachgemässer Leitung der Hauptverhandlung wäre dann am besten dadurch zu genügen, dass die Staatsanwaltschaft veranlasst würde, ihre Anklageschrift in ähnlicher Weise, wie eine zivilprozessuale Klageschrift, also mit detaillierten Tatsachenanführungen unter Bezugnahme auf Beweismittel abzufassen; eventuell so, dass der Vorsitzende die Vorverfahrensakten erhielte, aber an der Urteilsfällung nicht teilnähme.

B. Politik der Praxis.

Soll die Strafprozessgesetzgebung auch darauf bedacht sein, das Dürfen und Müssen der Staatsorgane tunlichst exakt zu umreissen, so bleiben doch zahlreiche Sachlagen übrig, für die das nicht möglich ist, wie auch die Art und Weise des behördlichen Handelns in weitem Umfange

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 361. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/381&oldid=- (Version vom 14.8.2021)