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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Die Bekämpfung der Jury zugunsten des rechtsgelehrten Beamtengerichts, an der es in Deutschland nie gefehlt hat, ist bisher ohne Erfolg geblieben. Die Teilnahme des Volkes am Strafgericht liegt, wenn nicht logisch, so doch für die politische Gedankenwelt, die unsere Zeit beherrscht, in der Konsequenz des konstitutionellen Prinzips. Im Schöffengericht hingegen ist der Jury ein gefährlicher Rivale entstanden.

So hielt 1873 die Reichsregierung die Zeit für gekommen, unter Abschaffung der Schwurgerichte für Strafsachen aller Art Schöffengerichte einzuführen. Aber die Jury hat sich in den Reichsjustizgesetzen behauptet. Die Kommission zur Vorbereitung einer neuen deutschen Strafprozessordnung kam auf das Projekt von 1873 zurück. Doch bewährte sich wiederum die Volkstümlichkeit der Jury. Die neuen Entwürfe 1908, 1909 halten – mit einigen Beschränkungen der Zuständigkeit – an ihr fest.

Auf dem europäischen Kontinent bestehen Schwurgerichte ferner in Belgien (franz. code d’instr. crim. mit Abänderungen), Portugal (seit 1832), Griechenland (10. 3. 1834), in einer Reihe schweiz. Kantone (Genf, Waadt, Bern, Freiburg, Thurgau, Zürich, Aargau, Neuenburg, Solothurn), Italien (20. 11. 1859. bezw. 26. 11. 1865, 8. 6. 1874), Russland (20. 11. 1864, umgestaltet 1889, nicht überall eingeführt; Näheres: Foinitzki, Strafgesetzgebung der Gegenwart I S. 308 fg.), Rumänien (2. 12. 1864), Spanien (25. 4. 1888), Norwegen (1. 7. 1887, 22. 5. 1902), Ungarn (4. 12. 1896, 25. 8. 1897).

Die englischen Kolonien haben vielfach mit dem engl. Rechte auch die Jury (Malta, Australien, Ostindien pp.). In Brasilien wurden Anklage- und Urteils-Jury (5. 12. 1832) eingeführt.

Die Entwürfe für Italien und Österreich (1909) behalten die Jury bei, der letztere freilich in starker Beschränkung und mit unverkennbarer Hinneigung zum Schöffengericht.

III. Der Jury fällt die Schuld-, der Richterbank die Straffrage zu. Nicht der „nackte“ Tatbestand einer Tötung, sondern die Verübung eines Tötungsverbrechens in der Gesamtheit seiner rechtlichen Erfordernisse wird im Wahrspruche bejaht. An Stelle dieses allein fassbaren, in England klar erkannten Gegensatzes hat die französische Rechtsübung die zur Kompetenzabgrenzung ungeeignete Scheidung von Tat- und Rechtsfrage gesetzt, war bemüht, die Geschworenen auf blosse Tatsachen zu beschränken, den Rechtspunkt dem Gerichte vorzubehalten. Die englischen Geschworenen werden durch Rechtsweisung des Richters in ihrer stets zugleich rechtlichen Aufgabe unterstützt; in Frankreich ist dafür nicht gehörig gesorgt. Die deutsche Wissenschaft hat den Irrtum der französischen Praxis überwunden. In Deutschland und Österreich wird den Geschworenen richtig die Schuld-, den Richtern die Straffrage zugewiesen. Aber die Durchführung der Unterscheidung lässt noch zu wünschen übrig, indem Teile der Straffrage zur Schuldfrage gerechnet werden und (nach Reichsrecht im Anschluss an code 341) den Geschworenen die Feststellung der mildernden Umstände, die als Strafzumessungsgründe zur Straffrage gehören, zufällt.

Eine Ausnahme vermag für England zu begründen das „Spezialverdikt“: die Jury antwortet auf die einzelnen Anklagetatsachen und überlässt die Findung des Ergebnisses dem Richter, doch ist solche Selbstbeschränkung selten. In das kontinentale Recht sind die Spezialverdikte nur ganz vereinzelt und modifiziert (Braunschweig, Thüringen) aufgenommen worden.

Auf dem Grunde eines Schuldspruchs der Geschworenen hat das Gericht die Strafe zu bestimmen.

Das Ansehen des engl. Richters, der im Schlussvortrag (summing-up, charge) bestimmenden Einfluss übt, und die Abhängigkeit der Geschworenen von Beweisregeln, die der Richter bindend darlegt, ermöglichen, dass das engl. Verdikt unmittelbar die Anklageschrift für begründet erklären oder verwerfen kann. Die französ., deutschen pp. Geschworenen, die in der Beweiswürdigung ganz frei und an Rechtsweisungen des Gerichts formell nicht gebunden sind, bedürfen der Leitung durch Fragen des Gerichts (so von vornherein die franz. Gesetze), die, logisch gegliedert, die konkreten Tatbestände und Tatumstände hypothetisch unter die gesetzlichen ziehen und so gefasst sind, dass ihre Bejahung oder Verneinung die Schuld, Nicht-Schuld des Angeklagten vor dem Gesetze oder den Bestand, Nichtbestand gesetzlicher Erschwerungs-, Milderungs- pp. Gründe ergibt. Teilweise Bejahung, Verneinung einer Frage ist zulässig.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 365. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/385&oldid=- (Version vom 18.8.2021)