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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Richter bestimmt wird. Auch in Zivilprozessen entscheiden sehr häufig Geschworene. Das nordamerikanische Recht hat die englischen Institutionen beibehalten.

Die geschichtliche Wurzel der Urteilsjury ist der Inquisitionsbeweis, die Beweisführung durch das Zeugnis der Genossen, Nachbarn, an Stelle der formalen Beweismittel des Volksrechts. Von den Satzungen der normannisch-englischen Herrscher, „assisae“, die zunächst auf zivilprozessualem Gebiete die neue Beweisart in den ordentlichen Rechtsgang aufnahmen, hat sich dieser Ausdruck auf die so gestalteten Gerichte übertragen. Dann erkannte die Magna Charta das Recht des Angeschuldigten an, sich – an Stelle der Reinigung durch Gottesurteil – auf den Spruch der Nachbarn zu berufen. Die bald folgende Aufhebung der Gottesurteile (1219, mit Ausnahme des Zweikampfes) erhöhte das Bedürfnis dieses Prozessaustrags. Der Richter vereidigt die Nachbarn auf wahrheitsgemässes Zeugnis aus eigenem Wissen über Schuld, Nichtschuld; daher heissen sie „Geschworene“, „juratores“, die Gruppe „jurata patriae“, „Jury“. Die Anwendbarkeit dieses Beweismittels schwand mit seinen sozialen Voraussetzungen. Nur auf primitiver Kulturstufe, bei unentwickelten Verkehrsverhältnissen, in einer sesshaften, nicht dichten Bevölkerung kann Kunde vom Tun und Treiben des Einzelnen mit einiger Sicherheit bei den Umwohnern erwartet werden. So musste sich mit der Zeit die eigene Information der Geschworenen als immer mangelhafter erweisen. Daher trat in sehr allmählicher Entwickelung an Stelle der Beweisführung durch Abhör der Geschworenen die Beweiserhebung vor diesen. Das Verdikt wird aus einer Zeugen-Aussage über die Schuld zu einem Urteil darüber auf Grund der Beweisergebnisse. Das Erfordernis der Nachbarschaft hatte nun jede Bedeutung verloren (noch ausdrücklich beseitigt 1825).

Das Verdikt ist in älterer Zeit zwölfstimmiges, bei Nicht-Einigung der anfänglich Berufenen eventuell durch Heranziehung weiterer Geschworenen erzieltes Gruppenzeugnis. Demnächst wandelt es sich in einen einstimmigen Spruch der 12 Urteilsgeschworenen. Die Annahme höherer Vertrauenswürdigkeit des einstimmigen Verdikts war nicht der Bestimmungsgrund für dieses Erfordernis, hat aber zu dessen Beibehaltung beigetragen und seine Empfehlung (durch Rüttimann, Köstlin pp., in zum Teil seltsamer Begründung) und Nachahmung in einigen deutschen Gesetzen (Braunschweig, Waldeck) veranlasst. Die schweren Bedenken liegen zutage: Begünstigung des Schuldigen, der nur einstimmig verurteilt, Benachteiligung des Unschuldigen, der nur einstimmig freigesprochen werden kann; Justizverweigerung bei nicht gelöstem Zwiespalt; Sieg der hartnäckiger vertretenen Sache mit dem Siege der bessern Sache nicht gleichbedeutend. Die Voraussetzungen, die in England die Einstimmigkeit erträglich machen, die Abhängigkeit der Geschworenen von Beweisregeln nach richterlicher Belehrung und die unbestrittene Autorität der richterlichen Weisungen, sind einer Übertragung nicht fähig.

Den Charakter eines Verteidigungsmittels hat der Geschworenenspruch in England insofern bis heute behalten, als auf Geständnis, „Autoverdikt“, hin der Richter ohne Geschworene urteilt. Auch hierin sind einige deutsche Gesetze dem englischen Vorbilde gefolgt (Württemberg 1849, Preussen pp.; so auch norweg. Ges. 22. 5. 1892 § 21). Wunderliche philosophische Deduktionen (Köstlin) haben die geschichtliche Zufälligkeit innerlich zu begründen versucht, während es doch Sache der Schuldbeurteilung, also des Richters der Schuldfrage sein muss, die Glaubwürdigkeit des Geständnisses zu prüfen.

Von den Fällen der summaries convictions abgesehen kommen in England alle Strafsachen vor Geschworene.

Als die französische Revolution den völlig entarteten, geheimen schriftlichen Untersuchungsprozess beseitigte, wurde nach englischem Muster mit dem öffentlich-mündlichen Anklageprozess auch die Jury in Frankreich eingeführt (Gesetze vom 16. bis 29. September 1791, code des délits et des peines vom 3. Brumaire IV). Die Volkssouveränetät erheischte Volksrichter, und die Schriftsteller der Aufklärungsperiode hatten seit Montesquieu die Jury gefordert. Als Anklagejury – eine vom kontinentalen Rechte fast durchweg reprobierte Bildung – hatte sie freilich nur kurzen Bestand. Dagegen wurde die Urteilsjury mit Beschränkung auf crimes, Verbrechen im eng. S., von Napoleon I., code d’instr. criminelle v. 1808, beibehalten.

Mit dem französischen Recht kam die Urteils-Jury in die Rheinlande. Die Bewegung der Jahre 1848 fg. hat dann – unter manchen Schwankungen – das Institut auf nahebei ganz Deutschland erstreckt.[1] Ausgenommen blieben schliesslich nur die wenigen Gebiete, die am gemeinrechtlichen Untersuchungsprozess festgehalten hatten (die beiden Mecklenburg, die beiden Lippe) und trotz Einführung des reformierten Strafverfahrens Sachsen-Altenburg und Lübeck. In Österreich hatte die Jury zunächst nur kurzen Bestand, bis die Prozessordnung v. 23. Mai 1873 sie als ordentliches Gericht wieder einführte.[2] Der Siegeslauf der Schwurgerichte in 1848 wurde ohne Zweifel durch die Tatsache begünstigt, dass man eine andere Form der Laienbeteiligung damals nicht kannte, indem die Form des Schöffengerichts erst nachher und sehr allmählich zur Ausbildung kam.


  1. Verzeichnis der Gesetze bei Binding, Grundriss des Strafprozessrechts 5. Aufl. § 10. Sammlungen (bis 1860) von Häberlin und Sundelin.
  2. Näheres bei Glaser, Handbuch des Strafprozesses I S. 182 fg., Ullmann, österr. Strafprozessrecht S. 32 fg.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 364. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/384&oldid=- (Version vom 15.8.2021)