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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

haben, dass ungewöhnliche technische Unbeholfenheit, die Plötzlichkeit des Ausbruchs der Revolution in Ungarn und in Wien jene allgemeine verhängnisvolle Verwirrung hervorgerufen haben, die im Falle planmässiger Anbahnung des Konstitutionalismus durch die österreichische Regierungspolitik nie eingetreten wäre.

Aus dem gleichen Grunde war der Verfassungsentwurf des Ausschusses des ersten konstituierenden österreichischen Reichstages, der infolge des Widerstandes gegen das Oktroi auf Grund eines nahezu allgemeinen Wahlrechts aber mittels indirekter Wahlen zuerst nach Wien berufen, nachher aber nach Kremsier verlegt worden war, zur Unfruchtbarkeit verdammt. Auch er enthielt keinen weiteren Hinweis auf die historische Monarchie, als dass er die Länder des Kaiserreiches bezeichnete, die nach der neuen Verfassung das Kaisertum Österreich als konstitutionelle Erbmonarchie bilden sollten; wobei die naive Erwartung obwaltete, es werde sich Ungarn um die Aufnahme in das durch den Entwurf geplante bundesstaatsähnliche Gemeinwesen bewerben.

Es verstand sich darum von selbst, dass die Reaktion sowohl im Kampfe gegen die revolutionäre Bewegung als auch nach deren Niederringung bei der Unvollziehbarkeit sowohl des ungarischen Gesetzartikels III.: 1848 als auch des Entwurfes der Kremsierer Verfassung im Hinblick auf die die Unteilbarkeit und Untrennbarkeit aller Länder des Hauses Österreich fordernde pragmatische Sanktion und die hierdurch gebotene Kontinuität der historischen Verbandseinrichtungen ansetzte. Hatte schon das Manifest über den Regierungsantritt Kaiser Franz Joseph I. vom 2. Dezember 1848 den Entschluss des jungen Herrschers, die Gesamtmonarchie ungeschmälert zu erhalten und dessen Hoffnung auf Vereinigung aller Länder und Stämme zu einem grossen Staatskörper ausgedrückt, so rechtfertigte das kaiserliche, die Reichsverfassung für das Kaisertum Österreich vom gleichen Tage verkündigende Manifest vom 4. März 1849 die am 7. März erfolgte Sprengung des Kremsierer Reichstags nicht bloss mit dessen durch die Festsetzung der Volkssouveränität bekundeten Doktrinarismus sondern auch mit dessen Unzuständigkeit für die Beratung einer von den Völkern Österreichs als unabweisbare Notwendigkeit empfundenen, das ganze Reich im Gesamtverbande umschliessenden Verfassung. In der Reichsverfassung vom Jahre 1849 (Märzverfassung Schwarzenberg-Stadionsche Verfassung) war die bei Vilagos am 13. August 1849 erfolgte Kapitulation der ungarischen Revolutionsarmee gewissermassen eskomptiert.

Die ungarische Verfassung wird nur im engen Rahmen ihrer Vereinbarkeit mit der neuen Reichsverfassung aufrecht erhalten (§ 71). Der Verband der sogenannten Nebenländer mit dem engeren Ungarn wird als gelöst behandelt. (§§ 68, 72–75.) Man pflegt diese Liquidation mit der Anwendung der von Hugo Grotius gelehrten Verwirkung der Verfassung eines gegen seinen Monarchen sich erhebenden Volke im Falle seiner Überwältigung zu erklären. Allein auch vom Standpunkte modernen Staatsrechts durfte der Verband der Nebenländer mit Ungarn – und hierbei kommt vornehmlich das Königreich Kroatien – Slavonien – Dalmatien in Betracht – zum mindesten von dem Zeitpunkt als erloschen betrachtet werden, in welchen die ihm zugrunde liegende monarchische Verbindung durch die unter Ludwig Kossuth’s Führung am 14. April 1849 vom ungarischen Reichstag ausgesprochene Absetzung des Kaisers und der ganzen Dynastie gelöst worden war. Findet doch auch die Erhebung der Südslaven gegen die ungarische Verfassung des Jahres 1848 unter der Führung des kroatischen Banus Jellacic ihre staatsrechtliche Erklärung in der Unzuständigkeit des ungarischen Reichstags, ohne Zustimmung des kroatischen Landtags eine fundamentale Änderung der rechtlichen Beziehung Kroatiens zu Ungarn durch Unterstellung des Banus unter eine dem Reichstag verantwortliche konstitutionelle Regierung zu beschliessen. Mit der Ausdehnung (des in der österreichischen Aprilverfassung zum erstenmal ausgesprochenen) auf die Rousseau’sche Staatslehre zurückzuführenden Grundsatzes der Gleichberechtigung aller Nationalitäten und Sprachen auf das ganze Reich und mit der Forderung eines Statutes für die Regelung dieser Verhältnisse (§§ 5, 71) wird ein Staatsrecht formuliert, das mit Modifikationen der modernen

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 410. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/430&oldid=- (Version vom 22.8.2021)