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gemacht, wenn das Oberhaus widerspenstig ist. Hat ein solcher Gesetzentwurf das Unterhaus passiert und ist vom Oberhaus, nachdem er hier spätestens 1 Monat vor Schluss der Session eingelangt war, überhaupt nicht oder nur mit Amendements angenommen worden, so wird der Entwurf ohne Rücksicht auf die etwaigen Amendements des Oberhauses dem Monarchen zur Sanktion vorgelegt und gilt, wenn diese erteilt worden ist, als Gesetz, trotzdem er die Zustimmung des Oberhauses nicht erhalten hat. Der Sprecher hat bei der Vorlage des Entwurfs zur Sanktion auf der Rückseite derselben zu attestieren, dass der Entwurf eine Money bill im Sinne des Gesetzes sei.

So ist die Vorherrschaft des Unterhauses und seiner Macht durch Unterhausbeschlüsse allein die Verfassung umzubilden, dauernd gesichert.

Auch in Frankreich ist die parlamentarische Regierung auf dem Wege der Parlamentspraxis entstanden.[1]

Nichts wunderbarer als dieser Prozess! Ein mit allen Vorurteilen der absoluten Monarchie ausgerüsteter König kommt zur Regierung: Ludwig XVIII, der in der Vorrede zu seiner dem Volke geschenkten Verfassung („Charte“ von 1814) ausdrücklich sagt, dass in seiner Person die gesamte Staatsgewalt vereinigt sei und er nur in der Ausübung der legislativen Gewalt vom Parlament beschränkt sein wollte („Bien que l’autorite toute entière résidât en France dans la personne du roi, nos prédécesseurs n’avaint point hésité à en modifier l’exercice“), und der sich trotz alledem einem parlamentarischen Regierungssystem anbequemen muss? Einfach die Macht der juristischen Logik unterstützt von dem Vorbilde der englischen Verfassung, die damals ein ebenso faszinierendes Vorbild war wie das römische Recht zur Zeit seiner Rezeption, hat dies bewirkt. Sehen wir uns diesen juristischen Prozess näher an, so finden wir, dass er an die recht dürftigen Bestimmungen der Charte über Ministerverantwortlichkeit und die Befugnis des Parlaments Steuern zu bewilligen, anknüpft. Aus dem Rechte der Steuerbewilligung folgert der Finanzminister Baron Louis selbst, dass dem eine Einigung über die zu deckenden Ausgaben, also eine Ausgabenbewilligung vorangehen müsse; damit ist dann notwendig eine Kontrolle der Verwaltung insbesondere auf die Zweckmässigkeit ihrer Ausgaben hin gegeben. Aber auch die Adressen an den König dienen diesen Zwecken, der Kritik der Minister und ihrer Handlungen, desgleichen das durch die Charte (Art. 53) gewährleistete Recht der Petitionen. Das Recht zur Einrichtung von Untersuchungskommissionen und zu Interpellationen wird als notwendiges Korrelat der durch die Charte übrigens nur strafrechtlich vorgesehenen Ministerverantwortlichkeit betrachtet. So entstehen die wichtigsten modernen Kontrollemittel bloss durch die Macht der parlamentarischen Logik. Das alles ereignete sich gleich zu Anfang der Regierung Ludwig XVIII, so dass der Politiker und Minister Vitrolle die aufkommende Notwendigkeit eines Ministerwechsels entsprechend der Parlamentsmajorität als „une consequence rigoureuse du systeme constitutionel“ bezeichnete. Aus der Macht jener „Logique parlementaire“ entwickelte sich aber auch jene innere Kohärenz des Ministeriums, die zum Kabinettbegriff nötig ist. Aus dem Staatsrat kristallisiert sich zunächst der Ministerrat, Prinzen und andere Dignitäre werden ihm nicht zugezogen, die Einheit („unité“) des Ministeriums von Ludwig XVIII schon in der Deklaration von Cambrai nach den „Hundert Tagen“ im Jahre 1815 zugesagt, wird als Grundsatz der Solidarität und Gleichgesinnung der Minister verstanden. Das Amt des Ministerpräsidenten, auch ohne weitere Administrationsgeschäfte als die der obersten Kontrolle der Ministerkollegen, bildet sich seit dem zweiten Ministerium Richelieu heraus, dagegen wird das noch an das „persönliche Regime“ des Monarchen erinnernde Staatssekreteriat, das im Sinne des Königs die Beziehungen der Minister untereinander erhalten sollte, unterdrückt, der Minister des königlichen Hauses wird aus dem engeren Ministeriat ausgeschieden, in das Parlament werden Gehilfen der Minister die Unterstaatssekretäre eingeführt, die nicht etwa zur Leistung administrativer Arbeit, sondern zur „Leitung“ der beiden Häuser, also zu rein politischer Arbeit angestellt sind. Noch ist man nicht so weit, die Minister unbedingt der Parlamentsmajorität zu entnehmen, aber schon im Jahre 1820 schafft man das Institut der Minister ohne Portefeuille, um wenigstens diese aus der Parlamentsmajorität


  1. Siehe darüber Barthélemy L’introduction du regime parlemantaire en France 1904. und mein allgem. St.R. I (1909) 30 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 420. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/440&oldid=- (Version vom 23.8.2021)