Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/49

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

die Reizmassen, welche zur Entwicklung eines allgemeinen psychologischen Fortschrittes notwendig sind, von ganz anderer Seite herkommen. Dies ist zum Teil beispielsweise in der Entwicklung der italienischen Renaissance geschehen, und hierher gehört nun auch der Fall des Fortschrittes des deutschen Seelenlebens um 1750. Die Reize, welche damals den Fortschritt bewirkten, kamen wesentlich aus der allmählich immer stärker werdenden Fortbewegung der durch den dreissigjährigen Krieg nur unterbrochenen, nicht aber ganz gestörten bürgerlichen Verhältnisse, aus der Behaglichkeit, welche diese Verhältnisse schufen und der damit gewährten Möglichkeit einer stärkeren geistigen Beschäftigung der Nation. Nun ist aber klar, dass in solchen Fällen, in denen die vorwärtstreibenden Reizmassen von vornherein nicht wirtschaftlicher, sondern geistiger Natur sind, dementsprechend die nächsten Erscheinungen des sozialpsychologischen Lebens, die durch sie hervorgetrieben werden, von vornherein einen wesentlich geistigen, nicht wirtschaftlichen oder sozialen Charakter haben werden. Dies ist nun der entscheidende Punkt, dessen Klarstellung zum Verständnis der Vorgänge in der Entwicklung der modernen Kultur seit 1750 in Deutschland notwendig erfolgen muss.

Das Eigentümliche ist unter diesen Umständen, dass das moderne Zeitalter auch auf politischem und sozialem Gebiete alsbald mit einer ideologischen Erscheinung beginnt, und dass erst in einer zweiten Periode dieses Zeitalters, die etwa um 1770 oder 80 einsetzt, sich daneben Wirkungen einer innerlichen, organischen, wirtschaftlichen und sozialen Umwälzung bemerkbar machen. Die subjektive Persönlichkeit wirkt sich mithin in der deutschen Geschichte zunächst nicht auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiete, sondern vielmehr auf den höheren geistigen Gebieten der Dichtung, der, Kunst und der Philosophie und dem Gebiete der praktischen Anwendung dieser Tätigkeiten aus und erst langsam geht sie von da auf das politische und schliesslich auch das kirchliche Gebiet über.

Unter diesen Umständen versteht sich, wenn wir nunmehr in die Entwicklung des Staats und der Staatskunst speziell dieser Zeit eintreten, dass zunächst nicht praktische Lösungen, sondern Theorien entstehen, und dass diese anfangs, wie z. B. bei dem jungen Schiller oder bei Fichte in einer gewissen Periode seines Lebens, ja sogar bei Kant in einen idealen Anarchismus auslaufen. Da soll im Staate vor allen Dingen die „Freiheit des Particuliers“ gewahrt werden, und am besten scheint diese gewahrt, wenn überhaupt gar kein Staat besteht. Von diesen Vorgängen her ist es begreiflich, dass, in einem zweiten Stadium der Entwicklung, vor allen Dingen die pädagogischen Fragen eine Rolle spielen. Der Gedanke war dabei, dass, wenn man den Einzelmenschen nur richtig erziehe, sich dann als Produkt dieser Erziehungstätigkeit der richtige Staat von selbst einfinden werde. Und auch auf dem Gebiete der Erziehung ging man zunächst nicht von pädagogisch-praktischen Motiven aus, sondern – besonders ausgeprägt Schiller – von der Auffassung, dass die blosse Erkenntnis und das Ergreifen des Schönen ohne weiteres auch zu einer gefestigten subjektiven Sittlichkeit führen müsse, verlegte also den Kernpunkt der pädagogischen Fragen in die Ästhetik. Dem gegenüber war es dann ein bedeutender Fortschritt, als Pestalozzi in die Frage der eigentlichen praktischen Erziehung eintrat, und eben darum ist seine Lehre von so ausserordentlicher Bedeutung geworden. Allmählich, bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts näherte man sich darauf immer mehr wirklich politischen Fragen, und indem sie auftraten, ergab sich aus der früher schon auseinandergesetzten Notwendigkeit der Parteibildung alsbald die in der Natur der Dinge liegende Scheidung in ein konservatives und in ein liberales oder fortschrittliches Denken. Die Anfänge dieses Denkens lassen sich schon bei den patriotischen und politischen Schriftstellern der 80er und 90er Jahre des 18. Jahrhunderts deutlich verfolgen. Bis zu den Anfängen von Theorien, sei es konservativer, seien es fortschrittlicher Anschauung, gelangte man dann etwa um 1800. Und praktisch machen sich die beiden Anschauungen erst in der Beurteilung und politischen Behandlung des ungeheuren Umschwungs geltend, den Deutschland durch das Eingreifen Frankreichs und die Tätigkeit des ersten Napoleons um diese Zeit erlebte. Bald darauf, in den stillen Jahren nach 1815, kommen dann die Zeiten, in denen Anfänge politischer Parteien da, wo in den Territorien sich ein Repräsentativsystem durchgesetzt hatte, wahrnehmbar werden. Und auf diesem durchaus praktischen Boden erfolgt dann auch die erste eigentliche Programmbildung. Nach Lage der damaligen Verhältnisse waren für diese Programmbildung die Konservativen im Vorteil. Man muss immer bedenken, dass in diesen Zeiten weder die wirtschaftliche noch die soziale Lage in Deutschland von der der vergangenen Jahrhunderte

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/49&oldid=- (Version vom 4.7.2021)