Diverse: Handbuch der Politik – Band 1 | |
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sehen in England in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in Frankreich in der ersten Hälfte des 18. und in Deutschland um die Mitte des 18. Jahrhunderts, und zwar in Deutschland in den Erscheinungen der Empfindsamkeit, des Sturms und Drangs und später in dem Klassizismus und der Romantik, sowie in den Parallelerscheinungen zu diesen zunächst literarischen Gebieten Personen auftreten, denen starkes Gemütsleben, ausserordentliche und stetige Energie, willenskräftige Auswirkung auf andere Personen und ein intellektuell höher stehender Zustand als der des vorhergehenden Zeitalters eigentümlich ist. Von dem ihnen wesentlichen Kern ihres Expansionsbedürfnisses aus erfassen diese Personen vornehmlich einmal die grosse Zeitenfolge, in denen ihr Leben steht, woraus sich dann eine intensive Beschäftigung mit der Vergangenheit und damit der subjektiv-historische Sinn des 19. Jahrhunderts ergibt, und weiterhin räumlich dem Grundsatze nach die ganze Welt (primitiver Kosmopolitismus) und in der Praxis wesentlich die Nation (Nationalgefühl und Nationalbewusstsein). Mit diesen Kräften greifen sie dann überall ein und entwickeln daraus neue politische und historische Ideale. Da dabei jede dieser Persönlichkeiten ganz auf sich gestellt ist und mithin den Trieb zur Ausbildung einer eigenen Weltanschauung besitzt, so ist es prinzipiell in dieser Lage eigentlich gegeben, dass ihr voller politischer Ausdruck eine gemüts- und willensreiche Anarchie hätte sein müssen. In der Tat ist dies der Ausgangspunkt des politischen Denkens in den neuen Kreisen gewesen. Im Fühlen, Wollen und Denken die weitesten Horizonte suchend, räumliche wie zeitliche, fand dieser Zustand doch bald gewisse Schranken, so vor allen Dingen die der Nation und der nationalen Geschichte. Und indem diese Schranken bewusst empfunden wurden, entwickelte sich gerade daraus der Trieb zu gegenseitiger Durchdringung, zur Vereinigung auf der breiten Basis der eben angedeuteten Horizonte. Und hier tritt dann ein anderes Motiv der subjektiven Persönlichkeit hervor, das schon im Laufe des 19. Jahrhunderts, noch mehr aber im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts immer wirksamer geworden ist. Das ist das Motiv der modernen Vereinsbildung in allen ihren unendlich zahlreichen Formen.
Fragt man sich nun, in welchen konstitutionellen Formen und Begriffen sich das neue Persönlichkeitsideal auswirken musste, so ergibt sich für die kirchliche Entwicklung als Antwort: in der Sekte, und für die politische Entwicklung: in der Partei. Sekte und Partei sind in dem hier gemeinten Sinne Erscheinungen, welche die früheren Zeitalter noch nicht gekannt haben. Dabei ist es selbstverständlich, dass für die kirchliche Entwicklung damit die politische Formel der freien Kirche im freien Staate gegeben war, soweit Europa, bei dem sich die Sektenbildung eben erst aus den Kirchen entfalten musste, in Betracht kam, während sich auf dem neuen Boden Amerikas die Sektenbildung alsbald fast ganz ungestört vollziehen konnte. Und so ist es weiterhin auf politischem Gebiete das Parteileben mit dem ihm zugrunde liegenden Demokratismus im englischen Sinne (Demokracy), welcher als politische Haupterscheinung des 19. Jahrhunderts hervortritt.
Verfolgen wir nach dieser Abgrenzung der Hauptbegriffe speziell die deutsche Entwicklung, so ergibt sich hier, wie schon einmal angedeutet, zunächst die eigentümliche Erscheinung, dass das neue Zeitalter ganz entgegen den Lehren der Marx’schen Geschichtstheorie nicht mit Erscheinungen auf wirtschaftlichem Gebiete, sondern alsbald mit Vorgängen in der höchsten geistigen Entwicklung beginnt. Um 1750 haben wir in Deutschland keine ökonomische Revolution, sondern vielmehr Klopstocks Messiade erlebt. Zum Verständnis dieser Tatsache mag hier mit einigen Worten auf eine spezielle, nur kulturgeschichtliche Betrachtung eingegangen werden. Der eigentliche Fehlen der Marx’schen Geschichtstheorie ist der, dass vermöge eines Irrtums des dialektischen Schlusses unter voller Vernachlässigung der psychologischen Faktoren von wirtschaftlichen Vorgängen unmittelbar auf geistige Erscheinungen und auf deren Folgen geschlossen wird. Ein Vorgang aber wie der diesem Schlusse als zugrunde liegend gedachte kommt nie und nirgends im geschichtlichen Leben vor, vielmehr ist der Entwicklungsgang für die Massenerscheinungen des geschichtlichen Lebens immer der, dass durch irgendwelche von aussen kommende Reize Potenzen geschichtlichen Fortentwicklung, die als solche schon in den grossen geschichtlichen Einheiten, Nationen usw. liegen, zur Auslösung gelangen, gleichgültig, welcher besonderen Art diese Reize sind. Nun sind diese Reize in der Tat sehr häufig wirtschaftlicher Natur, wie es denn keinem Zweifel unterliegt, dass die moderne deutsche Kultur wesentlich durch die Reize der Umwandlungen unseres Wirtschaftslebens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgelöst wurde. Allein es kann auch geschehen, dass
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/48&oldid=- (Version vom 4.7.2021)