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den Staat nur als eine gedankliche Operation, als eine zu bestimmten Zwecken vorgenommene Synthese erfasst.[1] Wenn wir nun aber in Erwägung ziehen, dass die ganze Weltgeschichte erfüllt ist von den Wirkungen, welche die staatlichen Verbindungen der Menschen nach aussen und im Innern ausgeübt haben, so ist der Gedanke unabweislich, dass wir es beim Staate mit einer Realität, mit einer der Welt des Seins angehörigen Erscheinung zu tun haben. Die organische Theorie hat dies richtig herausgefühlt, aber eine Erklärung versucht, welche nicht vollkommen befriedigt, da für eine Reihe von staatlichen Gebilden die Konstruktion eines Gesamtwillens aus der Vereinigung der Einzelwillen kein Abbild der Wirklichkeit darstellt. Es muss also ein anderer Weg gesucht werden, welcher dahin führt, die reale Natur des Staates so zu beschreiben, dass alle im Laufe der Weltgeschichte auftauchenden staatlichen Verbindungen der Menschen dadurch erfasst werden können.

In dem Begriffe der Energie, wie ihn die moderne Naturwissenschaft ausgebildet hat, dürfte dieses Ziel annäherungsweise erreicht werden. Dieser Begriff beschränkt sich nicht auf die mechanischen und chemischen Kräfte, sondern hat bereits in der Biologie seine Anwendung gefunden in der viel geschmähten, aber doch unentbehrlichen Lebenskraft. Dieselbe setzt sich allerdings in letzter Linie aus mechanischen und chemischen Kräften zusammen, bildet aber doch eine eigenartige, von diesen Elementen verschiedene, höhere Gestaltung der Energie. Es steht nichts im Wege, eine neue Erscheinungsform, die soziale Energie als die Ursache aller jener Wirkungen zu bezeichnen, welche aus einer eigentümlichen Zusammenfassung biologischer Energien hervorgeht. In der Tat ist es nicht zu bezweifeln, dass wir es beim Staate mit einer Kraft-Erscheinung zu tun haben,[2] deren Elemente zwar in den physischen und psychischen Energien der einzelnen zum Staate gehörigen Menschen gegeben sind, welche aber doch verschieden ist von einer blossen Summierung dieser Kräfte. Schon der Umstand, dass die Komponenten dieser Gesamtkraft im ständigen Wechsel begriffen sind, während diese einen dauernden Charakter an sich trägt, bezeugt die Selbständigkeit der aus dem Zusammenwirken hervorgehenden Energie.

Indem die einzelnen, staatlich vereinigten Menschen physische, ökonomische, geistige und moralische Kräfte dem Ganzen, das wir Staat nennen, zur Verfügung stellen, hören sie aber durchaus nicht auf, selbständige Kraft-Zentren zu bilden. Dadurch entsteht eine eigentümliche Wechselwirkung zwischen der zur Selbständigkeit erhobenen Gesamtenergie und den Einzelkräften, welche das ständige Reservoir der Gesamtkraft darstellen. Es können daraus Gegensätze und Reibungen entstehen, für welche der physische Organismus kein Vorbild abgeben kann, weil hier von vornherein alles auf ein geordnetes Zusammenwirken abgestellt ist. Die Tatsache, der zufolge die einzelnen Staatsglieder einen Teil ihrer Kräfte und Leistungen dem Staate zur Verfügung stellen,


  1. Daher dürfte auch die vom methodologischen Standpunkte interessante Ausführung Max Webers im Archiv für Sozialpolitik Bd. 19, S. 71), derzufolge der Staat nur eine gedankliche Synthese von Handlungen der Menschen bedeute, dem Wesen des Staates nicht gerecht werden. Dann wäre der letztere abhängig von den jeweiligen, unter sich verschiedenen Vorstellungen, welche die Menschen sich vom Staate bilden; so richtig Loening S. 701. Allein auch dieser Schriftsteller bleibt im Bereiche der blossen Vorstellung vom Staate, wenn er ihn als Rechtsverhältniß bezeichnet. Durch die Hinzufügung des Beiwortes „real“ hört dasselbe nicht auf, etwas bloss Gedachtes zu bilden.
  2. Der Hauptvertreter der modernen Energetik, W. Ostwald, hat in seinem Werke „Die energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaft“ (1909) das 12. Kapitel der Betrachtung des Staates gewidmet („der Staat und seine Gewalt"). Der erwartungsvolle Leser erfährt dabei eine gewisse Enttäuschung. Hier wird von der Bedeutung der Kriegsheere und von der Konzentration des Geldkapitals gesprochen; jener Staat sei am mächtigsten, welcher über die beste Armee und über das meiste Geld verfüge (S. 159 ff). Dass das heilige Römische Reich zu Grunde gegangen ist, weil es keine zusammengefasste Energie darstellte (S. 160), dürfte schwerlich als eine neue Auffassung bezeichnet werden können. Auch was Ostwald S. 110 über die Lehre Rousseaus vorbringt, zeigt, dass er auf dem Gebiet der Staatslehre nicht genügend orientiert ist. Spuren der energetischen Auffassung des Staates finden sich schon bei Spinoza, dessen Lehre vom Staatsvertrage, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, keinen juristischen, sondern einen realpsychologischen Charakter an sich trägt. Vgl. meine Abhandlung in Grünhuts Zeitschrift Bd. 34 S. 451 und jetzt Rosin in der Festschrift für Gierke „Bismarck und Spinoza“ S. 383 ff.
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/62&oldid=- (Version vom 4.7.2021)