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kann verschiedene Ursachen haben. Sie kann einfach die Folge eines urwüchsigen Instinktes sein, wie er schon in den sog. Tierstaaten zum Ausdruck kommt. Es kann das Gefühl der Furcht vor einer höheren göttlichen oder menschlichen Gewalt, es kann das Gefühl der Liebe zum Herrscher oder zum genossenschaftlichen Verbande ausschlaggebend sein; es kann die Gewohnheit oder einfach die Indolenz dieses Verhalten der Menschen herbeiführen; es kann schliesslich vernünftige Erwägung, bewusste Reflexion denselben Effekt haben.[1]

Die so gesammelten, sachlichen und persönlichen Dienstleistungen führen zu dauernden Einrichtungen, in welchen die Gesamtkraft ihren Ausdruck findet. Dabei ist es durchaus nicht notwendig, dass jene Menschen, welche als Glieder des Staatsverbandes die Quellen für diese höhere Energie darstellen, auch die Verfügung über dieselbe ganz oder teilweise besitzen. In den despotischen Staatsformen tritt dies am klarsten hervor; aber auch in den zivilisierten Staatsformen ist die Verfügungsgewalt keineswegs so geordnet, dass sie gleichmässig auf diejenigen verteilt ist, welche ihre Kräfte zur Bildung der Gesamtenergie zur Verfügung stellen. Zum Begriffe des Rechtsstaates genügt es vollkommen, wenn allgemeine Regeln darüber bestehen, unter welchen Voraussetzungen von den einzelnen Bürgern Leistungen für den Staat in Anspruch genommen werden können und darüber, welche Personen berechtigt sind, über die geschaffene Gesamtkraft zu verfügen. Erst die Ziehung solcher Grenzen bewirkt, dass das Verhältnis der Einzelnen zum Staate durch Rechtsregeln bestimmt wird; erst unter dieser Voraussetzung wird der Staat auch zum Rechtsbegriffe, ohne damit seine wahre Natur zu ändern, nämlich seinen energetischen Charakter. Darnach erscheint der Staat als die Gesamtheit der Einrichtungen, welche dazu dienen, die Kollektivkraft eines Volkes zu bilden und über sie zu verfügen.

VI. Die Lehre vom Staatszweck.

In einem Handbuche der Politik darf eine prinzipielle Erörterung über den Staatszweck nicht fehlen.[2] Da finden wir zunächst die auffallende Erscheinung, dass manche Autoren die Berechtigung der Frage nach dem Staatszwecke überhaupt in Abrede stellen. In dieser Auffassung begegnen sich merkwürdigerweise einzelne begeisterte Apostel der Staatsidee mit radikalen Gegnern derselben. Wer in dem Staate eine göttliche Einrichtung erblickt, wer auch nur annimmt, dass derselbe eine Verkörperung der sittlichen Idee oder eine Inkarnation der Vernunft bedeute, wird leicht geneigt sein, die Frage nach dem Zwecke des Staates als eine Herabwürdigung dieser erhabenen Institution, mindestens als eine überflüssige Problemstellung zu bezeichnen. Umgekehrt behaupten die Vertreter der soziologischen Staatsidee, namentlich aber die Theoretiker des Sozialismus und Anarchismus, dass der Staat überhaupt oder mindestens der Staat in der bisherigen Geschichtsentwicklung als nackte Klassenherrschaft keinen besonderen Zweckgedanken zum Ausdruck bringe. Er sei ein Fabelwesen; in Wirklichkeit handelt es sich dabei immer nur um die egoistischen Zwecke der herrschenden Gesellschaftsgruppen.[3]


  1. Eine gewisse Verwandtschaft hat die hier angedeutete Auffassung des Staates mit der Lehre Berolzheimers. Er erblickt (a. a. O. S. 23, 24) im Staate den rechtsartifiziellen Grund-Kraftquell. Kraft ist, was Wirkung tatsächlich verursacht; artifiziell ist jene Kraft, die mit der Bildung menschlicher Gemeinschaftsverbände geschaffen wird. Die staatlich organisierte Menschheit weist gegenüber der vorstaatlichen Gruppengemeinschaft ein Plus an Kraft auf. Dieser Kraftgewinn erfolgt aber nicht durch bewusst planmässiges Handeln, vielmehr regelmässig durch religiöse Illusion (S. 57). Dazu möchte ich, eingehende Auseinandersetzung vorbehalten, kurz bemerken, dass die religiöse Illusion für die Anfänger des Staatslebens gewiss höchst bedeutungsvoll erscheint, aber später durch andere psychologische Momente ersetzt wird. Auch würde der Staat richtiger nicht als Kraftquelle zu bezeichnen sein (denn die Quelle der erhöhten Kraft liegt immer in dem einzelnen Menschen), vielmehr ist der Staat identisch mit der Gesamtkraft des Volkes, bei deren Bildung und Organisation die Rechtsordnung, wie ich im Gegensatze zu Berolzheimer glaube, nur eine sekundäre Rolle spielt. Jedenfalls verdienen die originellen Darlegungen des genannten Schriftstellers vollste Beachtung.
  2. Dass diese Frage für eine rein juristische Betrachtung des Staates keine Bedeutung besitzt, hebt treffend hervor Bernatzik a. a. O. S. 235, 241.
  3. So bes. A. Menger a. a. O. S. 201: „Die Staaten als solche haben gar keinen Zweck, sondern nur ihre Machthaber.“
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/63&oldid=- (Version vom 4.7.2021)