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erhebt, ohne freilich zu hindern, dass ein nicht unerheblicher Bruchteil des Staatsvolks in den Frauen, Handlungsunfähigen usw. ausgeschlossen bleibt. Die Aristokratie heisst Oligarchie, wenn die herrschende Minderheit verfassungsmässig sehr beschränkt ist, Timokratie oder Plutokratie, je nachdem die herrschende Minderheit sich aus Amts- und Würdenträgern oder aus den Reichsten zusammensetzt. Die Demokratien sind entweder unmittelbare oder mittelbare. In den ersteren ist auch die Ausübung der Staatsgewalt, die Staatsregierung selbst direkte Angelegenheit der Staatsbürgergemeinde, zum mindesten grundsätzlich die Ausübung der gesetzgebenden Gewalt, aber zu einem gewissen Teile auch die Ausübung der Rechtsprechung und Verwaltung. Die unmittelbare Demokratie passt nur für Staatsverbände kleinster Art.[1] Die mittelbare Demokratie beruht auf dem Repräsentativgedanken, welcher auch zur Einrichtung der Volksvertretung in der konstitutionellen Monarchie geführt hat. In der mittelbaren Demokratie sind – wegen der Grösse des Staatsverbandes – die Funktionen der Staatsregierung delegationsweise an sekundäre Staatsorgane verteilt, die entweder sämtlich oder zum Teil von den stimmberechtigten Vollgenossen der Staatsbürgergemeinde bestellt werden. Insbesondere ist die Wahl des mit der gesetzgebenden Gewalt betrauten „gesetzgebenden Körpers“ Aufgabe der Staatsbürgergemeinde, doch auch die Wahl des zur Exekutive berufenen „Präsidenten“ und der Richter kann mitunter von ihr ausgehen, während anderwärts der Präsident der Republik vom gesetzgebenden Körper bestellt wird. Bisweilen umgibt sich die mittelbare Demokratie ausserordentlicherweise mit unmittelbar-demokratischen Institutionen. Bei Verfassungsänderungen, aber manchmal auch bei bestimmten Landesgesetzen kann die durch Abstimmung einzuholende Entscheidung der ganzen Staatsbürgergemeinde Vorschrift sein (Referendum, obligatorisches, fakultatives R.). Andererseits kann die als Träger der Staatsgewalt anzusehende Staatsbürgergemeinde einem Einzelindividuum zunächst alle drei Funktionen der Staatsgewalt übertragen, so dass dasselbe eine monarchenähnliche Stellung gewinnt („demokratische Tyrannis“). Jedenfalls sind auch nur Scheinmonarchien, in Wahrheit aber Republiken Staaten mit „Volks“- oder „Nationalsouveränetät“, in welchen die Ausübung der Staatsgewalt neben dem durch Volkswahl sich ständig erneuernden gesetzgebenden Körper einem erblichen Staatshaupt mit monarchischer Titulatur delegiert ist. In neuerer Zeit sind allerdings Versuche gemacht, unter Hereinziehung dieser Verfassungsform den Begriff der Monarchie umzudeuten und zu erweitern. Jellinek insbesondere glaubt noch gegenwärtig dem monarchischen Prinzip einen beliebigen rechtlichen Inhalt geben zu dürfen und erachtet als wesentliches Merkmal des Monarchen nur, dass ein solcher die höchste Gewalt des Staates darstellt, d. h. die richtunggebende Gewalt, die den Staat in Bewegung setzt und erhält und wenigstens ein Zustimmungsrecht bei Verfassungsänderungen in sich schliesst: einen solchen „Monarchen“ könne es auch in Staaten mit Volks- oder Nationalsouveränetät geben. Aber eine derartige Konstruktion bewirkt in Wahrheit eine Verdunkelung des klaren hergebrachten Monarchenbegriffs. Das erbliche, mit monarchischer Titulatur ausgestattete, aber auf dem Volkswillen rechtlich ruhende Staatshaupt entbehrt der schlechthin gesicherten Rechtsbasis, welche dem kraft ursprünglichen Rechts zum Träger der Staatsgewalt berufenen wahren Monarchen zukommt. In äussersten Notfällen des Staatslebens erscheint es im letzten Ende materiell nicht ohne Rechtsgrund, wenn der Volkswille, der verfassungsmässig als der primäre Träger des Staatsbaues gewertet ist, unter Beseitigung formeller Schranken sich selbst des rechtlich nur auf seinen Schultern ruhenden „Monarchen“ entledigt.[2]


  1. Antike Stadtstaaten, schweizerische Kantone mit Landsgemeinden.
  2. Unter den deutschen Staaten sind „Republiken“ und zwar speziell „Aristokratien“ die drei Hansestädte. In ihnen ist nicht die grosse Gesamtheit der aktiven Staatsbürger, sondern die Einheit zweier kleinerer, durch Wahl bestellter Kollegien, nämlich von Senat und Bürgerschaft, Träger der Staatsgewalt; andrerseits ist auch die Ausübung der Staatsgewalt in ihren drei Funktionen in besonders gegliederter Weise teils beiden Kollegien, teils den Gerichten übertragen. Die Hamburgische V. v. 13. X. 1879 Art. 6: „Die höchste Staatsgewalt steht dem Senat und der Bürgerschaft gemeinschaftlich zu. Die gesetzgebende Gewalt wird von Senat und Bürgerschaft, die vollziehende vom Senat, die richterliche von den Gerichten ausgeübt.“ Das „gemeinschaftliche Zustehen“ ergibt deutlich den Gedanken der Einheit des Trägers der Staatsgewalt. Gleichartig Art. 4. Lübeck’sche V. 5. IV. 1875 und § 3, 56 Bremen’sche V. 17. XI. 1875. Eine mittelbare Demokratie ist gegenwärtig Frankreich. Träger der Staatsgewalt ist zwar die „Nation“ d. h. die Gesamtheit der aktiven Staatsbürger. (Vgl. A. 1. V. 4, XI. 1848: La souveraineté reside dans l’universalité des citoyens français; elle est inaliénable et imprescriptible). Aber es gibt des pouvoirs constitués, dans l’ensemble desquels l’ exercice de la souveraineté réside (Hubrich. Parlamentarische Redefreiheit und Disziplin S. 114 f.): Senat und Deputiertenkammer, Präsident, Gerichte. Den mit der Exekutive betrauten Präsidenten wählen – im Gegensatz zur unmittelbaren Volkswahl der V. 4. XI. 1848 – Senat und Deputiertenkammer, zur Nationalversammlung vereint, auf sieben Jahre, ebenso entscheiden sie über eine Verfassungsrevision. Dazu Art. 2 G. 14. VIII. 1884: La forme républicaine du Gouvernement ne peut faire l’objet d’une proposition de révision; les membres des familles ayant régné sur la France sont inéligibles à la Présidence de la République. Lebon V.R. der franz. R. 1909 S. 133 f., 200. Die „demokratische Tyrannis“ bestand in Frankreich zur Zeit der beiden Kaiserreiche. Der „mittelbaren Republik“ entspricht in Wirklichkeit auch Belgien mit seiner „parlamentarisch“ verfahrenden, „konstitutionell-repräsentativen“ Erbmonarchie (Vgl. Errera St.R. des K. Belgien 1909 S. 36 f.). Der „König der Belgier“ ist nach V. 7. II. 1831 nur neben den Kammern und den Gerichten zur Ausübung der Gewalten berufen, welche émanent de la nation (a. 25 f.), und besitzt keine anderen pouvoirs que ceux que lui attribuent formellement la Constitution et les lois particulières portées en vertu de la Constitution même (a 78). Gerade bei Feststellung der preuss. V. 31. I. 1850 ist von den Revisionskammern mit voller Klarheit die Wesensverschiedenheit der eigenständigen preussischen Monarchie vom belgischen Königtum betont worden. Hubrich in Z. f. Politik 1 S. 194 f.; Preuss. St.R. 1909 S. 82 f., 102, 125.
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/98&oldid=- (Version vom 12.7.2021)