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Unifikation und Umbildung des Steuerwesens führten, so ist der weitere Verlauf der Reformen mehr durch die tiefgreifenden Veränderungen im wirtschaftlichen und sozialen Leben, die Umgestaltungen der Produktionstechnik, die Lockerung der alten ständischen und beruflichen Gliederung, die zunehmende Differenzierung der Einkommen und Vermögen, die Beweglichkeit der Kapitalien und zahlreiche andere Ursachen beeinflusst worden. Neue politische und soziale Ideen treten auf. Die Ausstattung immer breiterer Massen mit politischen Rechten zwingt zur Rücksichtnahme auf deren Forderungen. Das soziale Gewissen erwacht und wird durch die sozialistische Kritik und die ethischen Anschauungen, die in der Volkswirtschaftslehre sich Bahn brechen, wach erhalten. Dieser Ideenrichtung kann die formale Gleichheit und Gerechtigkeit, wie sie die alten Ertragssteuersysteme zu verwirklichen trachteten, nicht mehr genügen. Man will im Steuerwesen den wirklichen Einkommens- und Vermögensverhältnissen möglichst nahe rücken, die Besteuerung möglichst der Leistungsfähigkeit anpassen. Diese Bewegung fand an der Wissenschaft, wenigstens an der deutschen seit den 1870er Jahren, kräftigen Rückhalt. Immer heftiger wird der Kampf gegen die sog. indirekten Steuern, die Verbrauchsabgaben und die Zölle, deren Wirkung auf den Einzelhaushalt unberechenbar und unkontrollierbar ist und von denen man, und in der Regel auch mit Recht, eine stärkere Belastung der unteren Klassen anzunehmen sich für berechtigt hält. Freihändlerische Strömungen und parteipolitische Dogmen verhindern zudem, wenigstens in Deutschland, eine Ausbildung staatlicher Monopole, obwohl diese noch am ehesten eine Anpassung der Steuer an die Leistungsfähigkeit der Verbraucher verbürgt hätten. Wo Verbrauchssteuern nicht umgangen werden können, da fordert man im Interesse einer ausgleichenden Gerechtigkeit eine stärkere Heranziehung der besitzenden Klassen durch rationelle Ausgestaltung der direkten Steuern. Der Ruf nach der allgemeinen Einkommensteuer, der in Deutschland seit 1848 nicht mehr verstummte, hat sich allmählich so bemerkbar gemacht, dass, wie die historische Übersicht zeigte, ihr Sieg heute besiegelt ist. In ihr glaubt man den richtigen Repräsentanten einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit gefunden zu haben. Sie ist aber nicht nur der Ausdruck demokratischer Forderungen geworden, sondern hat auch ihrerseits wieder die ganze Frage der Gerechtigkeit im Steuerwesen neu angeregt. Nur sind es jetzt mehr die feineren Probleme der Progression, der Abstufung der Steuersätze, der Festsetzung des Existenzminimums, der Berücksichtigung der individuellen, die Leistungsfähigkeit mindernden Verhältnisse, die sich in den Vordergrund der Betrachtung geschoben haben. Ebenso und von gleichen Grundideen ausgehend hat man, anfangs schüchtern, später immer entschiedener, die Vorbelastung des fundierten Einkommens durch Vermögens- oder auf Besitz beruhende Ertragssteuern, zum Teil auch durch andere Besitzabgaben, vornehmlich die Ausgestaltung der Erbschaftsbesteuerung, gefordert. Des weiteren hat in nahezu allen westeuropäischen Staaten, in Deutschland sowohl wie in Österreich, England, Frankreich, das Anwachsen des Kommunalbedarfes zur Frage nach der zweckmässigsten Ordnung des kommunalen Steuerhaushaltes angeregt. Die Vorschläge, die in dieser Hinsicht gemacht wurden, und die tatsächlich durchgeführten Reformen mussten auch auf das staatliche Steuerwesen zurückwirken. Es musste die Frage nach einer geeigneten Austeilung der Steuern auf Staat und Gemeinde erwogen und entschieden, Kommunal- und Staatsbesteuerung in ein organisches Verhältnis zu einander gebracht werden, so dass jede für sich der besonderen Natur des betreffenden öffentlichen Körpers und die Gesamtbesteuerung doch dem Wesen der finanziellen Einheit von Staat und Gemeinde entsprach. Dazu trat in Deutschland mit der Begründung des Reiches die schwierige Aufgabe, auch den Bedürfnissen des Reiches nach Steuereinnahmen gerecht zu werden, ohne den Gliedstaaten ihren Anspruch auf solche zu verkümmern, und ohne die im Einzelstaat mühsam errungenen Fortschritte auf dem Wege zur Steuergerechtigkeit aufzuheben oder allzusehr zu beeinträchtigen. Vergegenwärtigt man sich diese steuerpolitischen Schwierigkeiten, neben denen noch zahlreiche andere rein politischer, technischer, wirtschaftlicher Art einhergehen, so kann es nicht wunder nehmen, dass z. B. die Finanzreformen des Reiches von 1906 und 1909 eine schier unübersehbare Literatur hervorgerufen haben, die überreich ist an Kontroversen, je nach der politischen Auffassung, der wirtschaftlichen Stellung, dem finanziellen Verständnis und dem sozialen Empfinden der Verfasser.

Schon die heute noch bestehenden, oft weit auseinandergehenden Meinungsverschiedenheiten, die tatsächlichen Unterschiede im Steuerwesen der einzelnen Staaten, die rastlos sich vollziehenden

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/145&oldid=- (Version vom 12.9.2021)