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grossen Bauerngüter im Nordwesten und Südosten und ein Gebiet der Mittel- und Kleinbauerngüter in Mitteldeutschland und im Südwesten. Es handelt sich dabei keineswegs nur um Grössenunterschiede, sondern im letzteren ist Freiteilbarkeit mehr oder weniger vorherrschend, in den beiden anderen dagegen das System der geschlossenen, ungeteilten Vererbung der Höfe an einen Erben, das „Anerbensystem“.

Auch diese weiteren Unterschiede, ebenso wie der erste, sind Produkte der geschichtlichen Entwicklung. Allerdings sind sie nicht so alt wie jener, der tatsächlich bis auf das 9. Jahrhundert zurückgeht. Denn die Grenze zwischen Ost- und Westelbien im oben gekennzeichneten Sinn ist die alte Slavengrenze, und was östlich davon liegt, ist Kolonisationsland mit einer um tausend Jahre jüngeren deutschen Geschichte. Im älteren westlichen Teil aber bestand ursprünglich eine einheitliche gleiche Agrarverfassung, die der „älteren Grundherrschaft“, mit der Villicationsverfassung. Zu einem Herrenhof mit mässigem Eigenland (terra salica) gehörten mehr oder weniger zahlreiche Bauernhöfe, deren Bewohner persönlich unfrei, „hörig“, waren und dem Grundherrn Geld- oder Naturalabgaben, auch z. T. Dienste, für die erbliche Nutzung ihrer Bauernstelle leisten mussten. Solche hörige Lathufen hatten die kleineren Grundherrschaften 20 bis 30, die grösseren, namentlich geistlichen, in die Hunderte und Tausende, von denen dann immer eine Anzahl eine Villication mit einem Frohnhof als wirtschaftlichem Mittelpunkt bildeten, auf dem der Verwalter oder „Meier“ sass. Diese älteren Grundherrschaften waren aber sog. „Streubesitz“, d. h. sie bildeten keine geographisch abgeschlossenen Gebiete, und die Bauernhöfe eines Dorfes gehörten nicht alle zu einer Grundherrschaft, sondern in der Regel zu verschiedenen. Die Bauernstellen selbst aber waren klein und unteilbar.

In diese gleichartige Verfassung des älteren westlichen Deutschlands kam nun im 12. und 13. Jahrhundert eine Gliederung, welche bis heute fortdauert, durch die Aufhebung der Villicationen in Niedersachsen und eine ähnliche Entwicklung in Westfalen. Um seine mit dem Eindringen der Geldwirtschaft im Anschluss an die Kreuzzüge gestiegenen Bedürfnisse durch Erhöhung seines Einkommens zu steigern, löste der niedersächsische Grundherr die bisherige Verfassung bei welcher der Verwalter sich auf seine Kosten bereichert hatte, auf: er liess die hörigen Bauern frei, wodurch ihre Höfe an ihn zurückfielen, vereinigte in der Regel je vier dieser bisherigen Bauernstellen zu einer neuen grossen und „vermeierte“ diese d. h. verpachtete sie auf Zeit – so, wie er es zuvor mit der ganzen Villication dem Verwalter gegenüber, allerdings nicht mit befriedigendem Erfolg, getan hatte – an einen der freigelassenen Bauern, sodass er nach Ablauf weniger Jahre die Pacht erhöhen konnte, also das Steigen der „Grundrente“ ihm zugut kam. Die anderen drei Viertel der freigelassenen Bauern sanken teils in eine niedrigere Klasse der ländlichen Bevölkerung, die „Häusler“ oder „Brinksitzer“, herab, teils zogen sie in die zahlreichen, damals gegründeten Städte, teils endlich über die Elbe ins Slavenland und lieferten so das Menschenmaterial für die Kolonisation des Ostens.

Der zurückgebliebenen bäuerlichen „Meier“, d. h. Zeitpächter, aber nahm sich hier bald der moderne Staat an, der in den fraglichen Territorien sich kräftig entwickelte und ein lebhaftes finanzielles Interesse an der wirtschaftlichen Lage des Bauern, seines vornehmsten Steuerzahlers, gewann. Infolgedessen verbot er schon im 16. Jahrhundert die Erhöhung des Meierzinses und konnte dann unschwer das Meierrecht zu einem erblichen Rechte machen, auch sorgte er in der Folge für die Aufrechterhaltung der Geschlossenheit des Bauernguts und übte im nachmaligen Königreich Hannover bis zur Einverleibung in Preussen eine „öffentliche Grundherrschaft“ auch über die Bauern der privaten Grundherrschaften aus. Die Bauernbefreiung, welche die Bauern schon persönlich frei vorfand, hatte daher hier im wesentlichen nur das erbliche, im 18. und 19. Jahrhundert auch als dinglich anerkannte Meierrecht in Eigentum zu verwandeln und zu diesem Zweck vor allem Ablösung des Meierzinses, der anderen Abgaben und der Dienste zu ermöglichen. Dies geschah, nach einer vorübergehenden ersten gewaltsamen Einführung in der Franzosenzeit, endgiltig unter dem Druck der Julirevolution in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts. Aber jene öffentliche Grundherrschaft und das besondere bäuerliche Privatrecht, insbes. das „Anerbenrecht“, blieben bestehen, bis das Land preussisch wurde, und sie in den 70er Jahren durch die fakultative Einrichtung der „Höferolle“ ersetzt wurden. So ist Hannover ein Grossbauernland

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 232. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/248&oldid=- (Version vom 25.9.2021)