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zu setzen. Wie im Handwerk durch die Novelle vom 26. Juli 1897 die Möglichkeit besteht, die Zahl der Lehrlinge in ein bestimmtes Verhältnis zu den beschäftigten Gehilfen zu setzen, und man damit sehr gute Erfolge erzielt hat, so könnte nach gleichen Grundsätzen auch im Handelsgewerbe eine Regelung des Lehrlingswesens versucht werden. Ein zweiter Missstand betrifft die Länge der Arbeitszeit. Erstrebenswert ist vor allem die möglichste Ausdehnung des 8 Uhr Ladenschlusses und der Sonntagsruhe; liegen doch für einen gesetzlichen Maximalarbeitstag im Handelsgewerbe die Verhältnisse viel weniger ungünstig als im stoffveredelnden Gewerbe, weil die Konkurrenz des Auslandes völlig wegfällt. – Von weitgehender Bedeutung ist für den Handlungsgehilfen wie für alle Privatangestellten das Versicherungswesen. Die Angliederung dieser Personenkreise an die allgemeinen Versicherungsgesetze hat sich im ganzen als zweckmässig erwiesen, doch ist darüber hinaus eine Berücksichtigung der speziellen Interessen des hier in Frage stehenden Standes zu wünschen. In dem von der Reichsregierung veröffentlichten Entwurf eines Privatbeamtenversicherungsgesetzes ist der Weg einer Sonderversicherung beschritten worden. Es ist anzunehmen, dass diese in kürzester Zeit in irgend einer Form Gesetz wird. – Besonderen Wert legen die Handlungsgehilfen auf die Einrichtung von gesetzlichen Interessenvertretungen (Kaufmannskammern). Bei der Einbringung des Entwurfs über Arbeitskammern, der leider im Reichstag stecken geblieben ist, stellten die verbündeten Regierungen besondere Kammern für Angestellte und Techniker in Aussicht. Es ist freilich fraglich, ob sie in absehbarer Zeit zustande kommen werden, obwohl an Vorschlägen für ihre Ausgestaltung kein Mangel ist. Zahlreiche Denkschriften und Gutachten der Handlungsgehilfenverbände haben auf diesem Gebiete ein sehr umfangreiches und wichtiges Material beigebracht. – Eine weitere Forderung der Handlungsgehilfen bezieht sich auf die Errichtung von Handelsinspektionen, nach Art der Gewerbeaufsicht. Die Reichsregierung hat sich, dem Widerstreben der Prinzipale folgend, diesen Bestrebungen gegenüber bisher ablehnend verhalten. Es fragt sich aber, ob auf die Dauer ohne diese Institution auszukommen sein wird. Eine weitere Forderung hingegen: gesetzliche Mindestgehälter, dürfte in absehbarer Zeit keine Aussicht auf Verwirklichung haben. Es fehlen dafür auch alle Voraussetzungen. Solche Fragen zu regeln, eventuell mit Hilfe der Berufs-Organisationen muss den Beteiligten überlassen bleiben.

Die grosse Zahl der Handlungsgehilfen brachte es mit sich, dass in deren Reihen frühzeitig Organisationsbestrebungen einsetzten. Doch kam es zu einer gewerkschaftlichen Organisation verhältnismässig spät, wie diese auch heute noch keineswegs überwiegt, wenngleich sozialreformerische Bestrebungen zur Zeit von allen Verbänden verfolgt werden. Die wichtigsten der heute bestehenden Organisationen sind die folgenden: 1. Verband deutscher Handlungsgehilfen, mit dem Sitze in Leipzig; er fasst nahezu 100 000 Mitglieder. 2. Verein für Handlungskommis von 1858 (100 000 Mitglieder), ein Verband, der ursprünglich im wesentlichen auf Unterstützungs- und Bildungswesen sowie Stellenvermittlung sich beschränkte, neuerdings aber auch zu sozialpolitischer Tätigkeit übergegangen ist. In seiner Organisation unterscheidet er sich von den übrigen Verbänden dadurch, dass er das paritätische Prinzip scharf betont und demgemäss viele seiner Mitglieder Prinzipale sind, wodurch die Stellenvermittlung des Vereins günstig beeinflusst wird. 3. Deutsch-nationaler Handlungsgehilfenverband (Über 100 000 Mitglieder). Eine rein gewerkschaftliche Organisation, die stark sozialreformerisch ist, daneben aber auch unzeitgemässe Forderungen vertritt, so die Beseitigung der Frauenarbeit im Handelsgewerbe. Juden sind von der Mitgliedschaft des Verbandes ausgeschlossen. 4. Zentralverband der Handlungsgehilfen und -Gehilfinnen. Als „freie“ Gewerkschaft der Zentralkommission angeschlossen. Der Verband ist mit seinen noch nicht 2000 Mitgliedern für die kaufmännische Welt bedeutungslos. 5. Verein deutscher Kaufleute (20 000 Mitgl.). Im Jahre 1873 als Hirsch-Dunkersche Organisation gegründet, im Jahre 1911 aber als unabhängige Organisation fortgeführt. 6. Bund der kaufmännischen Angestellten. Eine Neugründung des Jahres 1911, die sich in ihrem Aufruf als die „erste unabhängig-gewerkschaftliche Organisation“ bezeichnet, „frei von Einflüssen des Arbeitgebertums, frei von Rassen-, Religions- und parteipolitischen Bestrebungen, frei von organisatorischer Verbindung mit der Arbeiterbewegung etc“. Ob für diese Neugründung ein Bedürfnis vorhanden

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 310. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/326&oldid=- (Version vom 8.10.2021)