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Die eigenartigen Verhältnisse der Maschinenindustrie finden sich in gesteigertem Masse in dem modernsten Zweige derselben, in der elektrotechnischen Industrie. Die praktische Verwendung des elektrischen Stromes kannte man schon seit dem Jahre 1837, aber vorläufig nur in der Schwachstromtechnik zur Verständigung über weite Entfernungen. Erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts kam die Starkstromtechnik auf, zunächst für die Zwecke der Beleuchtung (Bogenlampen und später Glühlampen), dann erschloss die Möglichkeit der elektrischen Kraftübertragung das Gebiet der Verkehrsmittel, die Elektrisierung der Strassenbahnen vollzog sich mit überraschender Schnelligkeit und die der Fernbahnen wurde begonnen, schliesslich kamen die Errungenschaften der Elektrochemie. In dem Wirbel von neuen Ereignissen und in der Hast der drängenden Konkurrenz war es wohl schwer, zwischen Wägen und Wagen die richtige Mitte zu halten. Im letzten Dezennium des Jahrhunderts entstand eine lebhafte Gründungstätigkeit. In der Zeit von 1895 bis 1900 stieg die Zahl der Elektrizitätswerke in Deutschland von 180 auf 774, die Leistungsfähigkeit derselben von 40 471 auf 230 058 Kilowatt, die Ausdehnung der elektrischen Bahnen von 854 auf 5308 Gleiskilometer und die Leistungsfähigkeit derselben von 18 560 auf 92 498 Kilowatt. Die Produktionsstatistik von 1898 ergab eine Gesamtproduktion im Werte von 228,7 Mill Mark, davon 211,1 Mill. Mark für Starkstromfabrikate. Die Unternehmer erkannten bald, dass ihre Hauptaufgabe nicht so sehr die Deckung, als vielmehr die Weckung des Bedarfes sei. Damit gesellte sich aber zu der technischen Leistung eine rein finanzielle, nämlich die Gründung von Aktiengesellschaften für Elektrizitätswerke und Strassenbahnen, für welche selbst die kleineren Städte leicht zu begeistern waren, falls die Kosten auf andere Schultern abgewälzt werden konnten. Die Elektrizitätsgesellschaften konnten aber nur bei grossen Anlagen von allgemeinem Interesse die Aktien der neugegründeten Gesellschaft rasch genug im Publikum unterbringen und damit die festgelegten eigenen Mittel frei bekommen. Zu bloss lokalen Unternehmungen mussten sie das Finanzkapital zu Hilfe nehmen, und zwar entstanden zu diesem Zwecke im Ausland (Schweiz, Belgien) eigene Banken, welche internationale Bedeutung erlangt haben. Die Bank für elektrische Unternehmungen in Zürich beispielsweise besitzt Aktien von 17 Elektrizitätswerken und 4 Transportunternehmungen in Deutschland, der Schweiz, Italien, Russland, Spanien und Argentinien und ist ausserdem an 2 Werken der elektrochemischen Industrie, einer Fabrikationsunternehmung für elektrotechnische Artikel und 7 Finanzierungsgesellschaften beteiligt. Die Gefahr war gross, dass die elektrotechnische Industrie in ihrem Bestreben, sich durch künstliche Schaffung von Abnehmern selbst Bedarf zu erzeugen, zu weit geht, und sie wurde nicht vermieden. Zu Beginn des jetzigen Jahrhunderts brach infolge allgemeiner Überproduktion die Krise herein. Diese beschleunigte den ohnehin schon wirksamen Konzentrationsprozess. Bis zur Krise waren in Deutschland 6 grosse Firmen auf dem Gebiete der Elektrotechnik tätig, in den Jahren 1903 bis 1905 entstanden aber durch Verschmelzung die drei grossen Konzerns, die noch heute bestehen: die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft, die Siemens-Schuckertwerke und die Felten & Guilleaume-Lahmeyer-Werke, doch befindet sich schon die Majorität der Aktien der letztgenannten Werke im Besitze der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft. Unterdessen ist aber neue Konkurrenz entstanden, insbesondere haben die Schweizer Aktiengesellschaft Brown Boveri & Co. und die amerikanischen Bergmann-Elektrizitätswerke ihren Einfluss geltend gemacht. Übrigens haben sich auch die Beziehungen der Elektroindustrie in den verschiedenen europäischen Staaten unter einander so verdichtet, dass selbst internationale Vereinbarungen nicht ausgeschlossen sind.

Ein Ruhm des modernen Deutschland ist die chemische Industrie. In ihr hat das Bündnis wissenschaftlicher Forschung und praktischer Arbeit die grössten Triumphe gefeiert. Sie ist heute

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 394. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/410&oldid=- (Version vom 29.10.2021)