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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Unsere Industrie ist ganz vorzugsweise auf Expansion, namentlich auf überseeische Ausdehnung angewiesen. Die chemische und die Elektrizitätsindustrie verdanken ihren erstaunlichen Aufstieg zu einem grossen Teile den Aufträgen des Auslandes. Auf unseren Werften lassen fremde Staaten ihre Kriegsschiffe bauen. Aus unseren Zechen beziehen nicht selten Belgien und England Kohlen. Maschinen, Stacheldraht, Voigtländer Spitzen, Gewebe, Arzneimittel, Goldarbeiten, Farben, Chemikalien, Spielwaren, Pelzwerk und Bücher gehen aus Deutschland in alle Welt. Sogar fremdsprachliche Bücher werden recht oft in Leipzig gedruckt, um im Ausland verwandt zu werden. Auch hier freilich durchkreuzt das internationale Element die nationalen Bestrebungen. Unsere grossen Elektrizitätskonzerne gehen mit amerikanischen und schweizerischen, mit ungarischen und belgischen Gesellschaften Interessengemeinschaften ein; die A.E.G. stellt sich durch die Viktoriawerke in den Dienst der Randminen. Tochtergesellschaften von Elektrizitäts- und Hüttenwerken, die im Auslande errichtet werden, vermindern vorläufig jedoch kaum den Absatz reichsdeutscher Erzeugnisse nach aussen.

Die wirtschaftliche Expansion wird vielfach durch unsere Landsleute im Auslande unterstützt. Unsere Auswanderung richtete sich ja, wie oben ausgeführt, ganz überwiegend nach fremden Ländern. Die Auswanderer aber suchten in den meisten Fällen von deutschen Firmen ihre Waren zu beziehen; sie brachten schon vorhandene Geschäftsverbindungen mit in die Ferne, oder knüpften von der Fremde aus solche in der Heimat an. So hat zwar die Auswanderung dem Mutterlande einen gewaltigen Verlust an Menschenkraft und Kapital gebracht, hat aber doch andrerseits Handel, Reederei und Industrie des Mutterlandes gefördert. Staatlich dagegen ist die Auswanderung nicht ausgenutzt worden. Im Gegenteil! Die Deutschen, die in der Londoner City, in Paris, in Amerika, und bei den Buren zu Ansehen und Reichtum gelangten, haben lediglich fremde, und mitunter feindselige Staaten gestärkt. Alle Versuche dagegen, einen staatlichen Zusammenhang mit dem deutschen Reiche herbeizuführen, wie sie von Texas (1836), von Südafrika und von Südbrasilien aus gemacht wurden, sind vollkommen gescheitert. Auch dem „Ausserreichischen“ Deutschtum in Europa, besonders in Österreich, und in Russland, hat die reichsdeutsche Regierung jede politische Hilfe verweigert.

Man rechnet, dass seit dem Sturze Napoleons etwa 6 Millionen Deutsche über das Weltmeer gegangen sind, davon 9/10 nach den Vereinigten Staaten. Sehr strittig ist die Zahl der Deutschen, die gegenwärtig im Auslande leben. Es ist das rein Sache subjektiver Schätzung, denn es kommt einzig und allein darauf an, ob sich die Betreffenden noch als Deutsche fühlen. Der eine Landsmann gebraucht ausschliesslich deutsch, ein anderer spricht es bloss noch im Hause, ein dritter hat es auch aus der Familie schon verbannt, und bedient sich seiner höchstens noch im Verkehr mit anderen Deutschen. Unbedingt abzuweisen ist das Einbeziehen der Holländer, Vlamen und Buren in den Rahmen des Deutschtums. Aber auch ohne diese Ueberspannung der Begriffe schwanken die Schätzungen unendlich, in den Vereinigten Staaten von 3 bis 27 Millionen. Die. letzte Zählung ergab 2,4 Millionen der Unionsbevölkerung, die in Deutschland geboren war. In Canada und Brasilien leben je 420 000 Deutsche, in Australien 105 000, in Südafrika 40 000. In ganz Asien 80 000. In Russland 21 Millionen. Eine weitere Schwierigkeit bietet die Entscheidung darüber, ob deutsch sprechende Juden, deren Zahl im russischen Reiche beinahe 6 Millionen ausmacht, zu den Deutschen zu rechnen seien.

Der Reichskanzler Graf Caprivi äusserte: Wir müssen entweder Menschen oder Waren exportieren. Dies Wort legt in meisterhafter Kürze den Kern der ganzen Frage dar. Es handelt sich darum, ob die Ausdehnung Deutschlands oder überhaupt irgend eines Staates durch Auswanderung oder Ausfuhr, durch die Gewinnung von Siedlungsländern oder die Stärkung der Industrie zu fördern sei. Andere Staaten haben beides fertig gebracht, so Grossbritannien, Nordamerika und Russland. Das deutsche Reich jedoch ist in eine Zwangslage geraten, die einstweilen nur ein Wachstum der Industrie erlaubt. Es gilt demnach, unserer Industrie neue Märkte zu sichern, und die alten zu behaupten. Zu dem Ende ist die Lehre von der offenen Tür von Deutschland besonders unterstrichen worden, weil eben gerade wir bei einer Sperrung der Märkte am meisten zu verlieren haben. Der Grundsatz der offenen Tür wurde bei Verhandlungen um China, Persien und Marokko angewendet. Zu leugnen ist allerdings nicht, dass dieser Grundsatz mehr wie einmal von fremden

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 272. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/288&oldid=- (Version vom 9.12.2021)