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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Vorzugszölle an. Neuseeland und Südafrika folgten dem Beispiel Kanadas und differenzierten das Mutterland zu ungunsten des nichtbritischen Auslandes. Diese Zollpolitik der Kolonien machte Chamberlain zur Grundlage seines grossen kolonial- und wirtschaftlichen Programms von 1903. Aber seine Partei unterlag 1905 bei den Wahlen, und die folgende liberale Regierung hielt am Freihandel fest und war für zollpolitische Gegenleistungen an die Kolonien nicht zu haben. – Die Kolonien haben indes bisher ihre einseitige Zollbegünstigung des Mutterlandes fortgesetzt. Auch der australische Zolltarif von 1908 enthält differentielle Ermässigungen für das Mutterland. Andererseits hat Kanada das Recht für sich in Anspruch genommen, eine selbständige Handelspolitik nach aussen zu führen. Die Kolonie forderte als Korrelat zu seiner zollpolitischen Autonomie eine Autonomie der Handelsvertragspolitik. Bisher war die Regelung sämtlicher internationaler Angelegenheiten des Reichs Sache der englischen Regierung gewesen; noch i. J. 1895 hatte das liberale Kabinet Lord Roseberys der kanadischen Regierung den Wunsch nach selbständigen handelspolitischen Verhandlungen abgeschlagen. Es war eine Anerkennung der völlig veränderten Verhältnisse, wenn die neue liberale englische Regierung ihre Zustimmung dazu gab. Kanada hat darauf einen selbständigen Handelsvertrag mit Frankreich sowie Handelsabkommen mit Deutschland und den Vereinigten Staaten geschlossen und es plante, ein handelspolitisches Gegenseitigkeitsverhältnis mit den Vereinigten Staaten einzugehen. Das Abkommen wurde zwischen den beiden Regierungen abgeschlossen und von dem amerikanischen Kongress angenommen, wurde aber nicht perfekt, da in Kanada die Regierung Sir Wilfrid Lauriers bei den Wahlen im Herbst 1911 unterlag. Trotz der Zollbegünstigung des Mutterlandes ist die Zollpolitik der Kolonie natürlich in erster Linie auf den Schutz und die Entwickelung ihrer eigenen Industrien gerichtet; aber es wird anerkannt, dass die Vorzugszölle den englischen Handel nicht unwesentlich gefördert haben.

Die englischen Kolonien sind auf dem Wege, sich zu eigenen Nationen zu entwickeln. In Kanada zeigten sich die Anfänge einer eigenen nationalen Individualität und eines spezifischen kanadischen Nationalbewusstseins am frühesten. Die einzelnen kanadischen Kolonien haben schon seit 1867 eine Bundesverfassung und bilden einen Gesamtstaat, und ausserdem besteht in den älteren Provinzen die politische Autonomie bereits im dritten Menschenalter. Die australischen Kolonien sind politisch weit jünger; erst i. J. 1901 wurden sie zu einem Bundesstaat zusammengeschlossen, und der Übergang vom kolonialen zum nationalen Bewusstsein begann erst Ende des vorigen Jahrhunderts. In Neuseeland endlich, wo noch ein sehr grosser Teil der heutigen Parlamentarier selbst aus dem Mutterlande eingewanderte Kolonisten sind, erhielt sich der rein koloniale Status am längsten. Der neuseeländische Imperialismus war identisch mit Loyalität gegen das Mutterland, während Kanada und Australien, wo schon der blosse Name „Kolonie“ Anstoss erregt, als gleichberechtigte Schwesternationen auftreten. Erst die Kolonialkonferenz von 1907 wurde diesem Standpunkt der Kolonien gerecht. Man beschloss, die regelmässige Wiederkehr der Konferenzen aller vier Jahre und bestimmte ihre Verfassung. Die autonomen Kolonien wurden zu „Dominions“, die Kolonialkonferenzen zu Reichskonferenzen erhoben. Im Kolonialamt wurde eine besondere Abteilung für die Dominions und eine andere für die Kronkolonien eingerichtet, damit beide Kategorien, ihrem Rangunterschiede gemäss, von einander getrennt würden. Die Konferenzen selbst wurden aus Ressortkonferenzen des Kolonialamts zu Konferenzen zwischen den Regierungen des Mutterlandes und der Dominions; der englische Premierminister verhandelte mit den Premierministern der Dominions; die Kronkolonien und Indien wurden ausdrücklich von der Teilnahme ausgeschlossen. Nicht mehr der Kolonialsekretär, sondern der englische Premierminister führt den Vorsitz, und auf der letzten Konferenz von 1911 hat Mr. Asquith tatsächlich einer grossen Zahl der Sitzungen präsidiert. Andererseits stiessen alle Vorschläge, der Konferenz auch nur den Schein einer politischen Verantwortung zu geben, auf Widerspruch, namentlich von Seiten Kanadas; alles sollte vermieden werden, was den geringsten Präzedenzfall für eine Beschränkung der kolonialen Autonomie geben könnte. Ein ständiges Sekretariat der Konferenz, das aber dem englischen Kolonialamt unterstellt ist, wurde genehmigt; jedoch der Plan, dem Sekretariat eine permanente Kommission an die Seite zu stellen, ging mehreren kolonialen Premierministern bereits zu weit.

Aber nicht allein handelspolitische Verträge sind von den Kolonien (bisher allerdings nur von Kanada) selbständig verhandelt worden, sondern auch Angelegenheiten rein politischen

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 316. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/332&oldid=- (Version vom 13.12.2021)