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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Eine hohe Bedeutung hat dagegen der neuerliche Zusammenschluss aller Hindu, bei dem freilich die politischen Elemente stärker als die religiösen sind. Der Brahmanismus zählt in seiner hinduistischen, stark vergröberten Form an 220 Millionen Anhänger, die sämtlich ostarische Sprachen reden. Seit zwanzig Jahren gibt es ein einheimisches Parlament auf der Himalayahalbinsel, und seit acht Jahren, offensichtlich angestachelt durch die Siege der Japaner, erhebt der Nationalismus bei den Hindu sein Haupt. Er äussert sich politisch durch erhöhte Agitation, wirtschaftlich durch Boykott englischer Waren, endlich durch Bombenwerfen und andere Attentate auf dem Gebiete der Propaganda der Tat. Vor allem lehnen sich politisch denkende Hindu dagegen auf, dass die finanziellen Hilfsmittel der Halbinsel zu ausserindischen Zwecken des britischen Reiches in Arabien, Afrika und Ostasien verwandt werden. England aber sucht der unleugbar vorhandenen Gefahr durch die verschiedensten Mittel zu begegnen. Die farbigen Truppen werden zurückgedrängt, die Weissen vermehrt. Die Polizeimassregeln, besonders die Überwachung der Presse, werden schärfer. Besonders eifrige Führer, wie der berühmte Sanskritist Tilak Tamai, werden vor Gericht gestellt und auf Jahre verbannt. Vor allem aber sucht man die Mohammedaner, 65 bis 68 Millionen an Zahl, gegen die Bekenner des Hinduismus auszuspielen. Zu dem gleichen Ende hat König Georg bei seinem letzten Besuche Indiens Januar 1012 die Hauptstadt der Halbinsel von dem hinduistischen Kalkutta nach dem moslimischen Delhi verlegt, zugleich allerdings, um die Regierung näher an das immer wichtiger werdende Südpersien heranzubringen.

Das britische Reich hat jetzt ungefähr 95 Mill. Moslime, das chinesische 20–60, das holländische 20–25 (30? 33?). Es folgt die Türkei mit etwa 15, Russland mit 14, Frankreich mit schätzungsweise 12 Mill., die durch Marokko weiter anschwellen werden.

Welche Ergebnisse hat die Revolution in Asien aufzuweisen? Am frühesten begann Japan. Dort ist die Sache gut abgelaufen. Dort handelte es sich jedoch – es war 1854–1868 – nicht so sehr um eine Revolution, als vielmehr um eine Restauration. Es handelte sich darum, den Mikado, der in das Dunkel der Palastgemächer zurückgetreten und zu tatenloser Beschaulichkeit herabgesunken war, wieder an die Spitze der Geschäfte zu bringen; es handelte sich darum, den Usurpator, den Schogun, in die gebührenden Schranken zurückzustossen. Auch hatte diese Umwälzung zunächst einen militärisch-diktatorischen Charakter; erst sehr viel später, erst 1889 wurde das erste Parlament berufen. Das Parlament war ein freiwilliges Geschenk des Mikado und seiner, bis dahin und zu einem grossen Teile auch noch jetzt diktatorisch schaltenden Berater. Von Bewegungen, die auf das Erzwingen einer Verfassung hinzielten, erfolgte die erste in Persien. Im Jahre 1906 sah sich der schwache Schah Mozafr Eddin veranlasst, dem stürmisch drängenden Volke, das durch eine lange Misswirtschaft und schlechte Finanzgebarung erbittert war, ein Parlament zu gewähren. Der Medschlis ist ständisch zusammengesetzt. Er besteht aus verschiedenen Kurien, wie man in Österreich sagen würde, aus einzelnen scharf abgegrenzten Gruppen, die je aus den Reihen der Prinzen, der Adels, der Priester, der Grundbesitzer, der Kaufleute und der Bauern gewählt sind. Es ist das ein Gedanke, der im späten Mittelalter bei uns verwirklicht wurde. Allein gerade in Persien zeigt es sich wiederum, dass ein an sich guter Gedanke dennoch in der Ausführung versagen kann: wenn eben die Träger des Gedankens nichts taugen, nämlich die persischen Edelleute, die vollkommen korrupt sind, die persischen Priester, die nicht wissen, auf welche Seite sie sich schlagen sollen, und die Bauern, die von den Verhältnissen der Welt keine Ahnung haben. Der Erfolg der persischen Revolution ist denn ein ungeheurer Wirrwarr gewesen. Aus dem Fegefeuer kam Persien in die Hölle; die Dinge sind jetzt weit schlimmer dort, als sie unter der Herrschaft des absoluten Schah je gewesen sind. Vor allem fehlt es an der Grundbedingung, an der Wirbelsäule jeder Regierungsmöglichkeit, an einer starken militärischen Macht. Iran ist offenbar dazu bestimmt, zu fallen, und, da es auf eigenen Füssen nicht mehr gehen kann, die Beute der Russen und Briten zu werden.

In der Türkei hat die Einführung der Verfassung sofort eine Abbröckelung des Osmanischen Reiches zur Folge gehabt. Bosnien und die Herzegowina, sowie Bulgarien wurden endgültig der Oberhoheit des Sultans entzogen; die Franzosen suchten Stücke vom südlichen Tripolitanien, von Fezzan, und die Engländer von Südarabien und Mesopotamien an sich zu reissen. Des weiteren entbrannte ein Bürgerkrieg in so ziemlich allen Teilen des ausgedehnten Imperiums. Die Bandenkämpfe

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 371. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/387&oldid=- (Version vom 23.12.2021)