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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Mazedoniens lebten wieder auf, nach Albanien wurden vier Feldzüge geleitet; Zehntausende von Redifs mussten in den arabischen Provinzen kämpfen, in Yemen, el Haza, Assyr, und Hadramaut; der Libanon wurde unter schrecklichem Gemetzel aufs neue unterworfen; in Adana kam es zu einem Christenmassakre, gegen den Kurdenscheich Ibrahim wurden zwölf Regimenter mobil gemacht; an der armenisch-persischen Grenze brachen die Unruhen nicht ab; dazu eine blutige Reaktion im April 1909; ausserdem in vier Jahren sechs Grosswesire und acht Scheichs ül Islam! Nun brach noch der Krieg mit Italien aus. Der war zwar insofern der Türkei zum Heile, als im Anfang die inneren Zwistigkeiten zum grössten Teile verstummten, und das Reich zum erstenmale seit langer Zeit ein ungefähres Bild der Eintracht bot; auf der anderen Seite war der Krieg eine abermalige Schwächung der Türkei. Nun brach noch der Balkankrieg aus. Die hohe Pforte konnte nur Thrazien behaupten. Die ringsum lauernden Feinde wetzen neuerdings die Zähne, lüstern nach neuem Gebietserwerb, nach neuer Beute. Auch wird jetzt schon vielfach geargwöhnt, dass nach dem Zusammenbruch der europäischen Türkei die Araber in ihrem geschwellten Selbstbewusstsein anspruchsvoller den Türken gegenübertreten werden.

Überhaupt birgt die zwischen Arabern und Türken bestehende Kluft noch viel Gefahren in sich. Die Diplomatie Abdul Hamids verstand es, die nationalen Gegensätze zu verschleiern, dagegen sind jetzt, unter dem konstitutionellen Regime, die Gegensätze wieder frisch aufgelebt. Ähnlich war es schon 1848. Bei dem allgemeinen Erwachen der Völker forderten nicht nur die Deutschen die Freiheit, sondern auch die Polen, Tschechen und Ungarn rührten sich, so dass für alle nationalistischen Bestrebungen Südosteuropas, wie der irredentistischen Italiener, die Erhebung von 1848 den Ausgangspunkt liefert. Im osmanischen Reiche haben die Jungtürken noch ganz besonders die Erregung geschürt; denn in ihrem Chauvinismus wollten sie alle anderen Volkheiten, als da wären Albaner, Kurden, Bulgaren, Griechen, Armenier und Araber vertürken. Dieser Versuch ist der Hauptanlass zu den Bürgerkriegen gewesen, aber der Sieg des Komitees für Einheit und Freiheit war nicht ein Sieg der osmanischen Macht. Genug, wenn wir die Gesamtlage überblicken, so müssen wir auch hier sagen, dass bis jetzt die Revolution für die Türkei lediglich der Anfang schwerer Kämpfe und unabsehbarer Wirren geworden ist. Wirtschaftlich ist die Lage ohne Zweifel besser geworden, da eine Revolution immer gewisse, vorher gebundene Kräfte entfesselt; politisch ist dagegen der Ausblick recht trübe.

Über die chinesische Revolution ein Urteil zu fällen, ist die Frist noch etwas kurz. Sind doch noch nicht zwei Jahre seit den Anfängen der Revolution verflossen. Immerhin ist das eine schon deutlich, dass auch in Ostasien eine Abbröckelung begonnen hat. Ein grosser Teil der Mongolei erklärte sich selbständig, und die. Tibetaner sind drauf und dran, die chinesischen Soldaten aus Lhassa zu vertreiben. Bedrohlich mischen sich die Nachbarn, Russen und Japaner, ein. Alles wird von der Persönlichkeit des Führers abhängen, ob das schwankende Staatsschiff sicher aus der stürmischen Brandung in ruhigere Gewässer bugsiert werden kann.

Das letzte Volk, das revolutionäre Neigungen zeigt, ist das siamesische. Auch es redet von einer Republik. Man kann schon jetzt mit Sicherheit behaupten, dass die Verwirklichung einer solchen Absicht für das kleine Siam verderblich sein würde. Engländer und Franzosen würden den Staat zwischen sich aufteilen.

Wir sprachen vom Erwachen der Asiaten, und trotzdem melden wir nichts als „Zurückweichen“ und Untergang asiatischer Staaten? Gewiss, aber der Anstoss Europas weckt eben schlummernde Kräfte.

Das Erwachen des Orients dauert schon zwei Menschenalter. Greifbaren Erfolg hat die Wiedergeburt des Ostens bisher nur in Japan, und – wenn auch nicht militärisch-politisch – in dem durchaus modernisierten, und recht gut verwalteten Siam gehabt. Die übrigen Länder des Orients befinden sich in den Wehen des Überganges. Noch immer dringt der Westen vor. Er verschluckt Marokko, Tripolis, Mazedonien, Stücke Arabiens, Persien, Belutchistan und die Mongolei. Die Widerstandskraft Chinas und der Türkei ist erheblich geschwächt, und eine weitere Abbröckelung beider Reiche scheint unvermeidlich. Trotzdem ist es gewiss, dass noch vor dem Ablauf eines Menschenalters der Tag kommt, da der gesamte Orient sich siegreich gegen den Occident erhebt.



Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 372. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/388&oldid=- (Version vom 23.12.2021)