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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

eine Zusatzversicherung, die gegen Zahlung einer besonderen Zusatzmarke geeignet ist, den freiwillig höhere Aufwendungen machenden Arbeitern eine Rente zu sichern, deren Höhe weit über derjenigen stehen kann, die auf Grund obligatorischer Leistungen zu erzielen ist. Aber auch sonst ist auf dem Boden der Invalidenversicherung, wie wir sehen werden, mancherlei Neues geschaffen worden.

Vielleicht am wenigsten ist von der Reform – obwohl auch hier die einzelnen Verbesserungen nicht zu unterschätzen sind – die Unfallversicherung berührt worden. Auf sie wird ebenfalls zurückzukommen sein.

Den Kernpunkt der ganzen Reform aber bildet die Krankenversicherung. Es ist gänzlich neu, dass obligatorisch einbezogen werden die häuslichen Dienstboten. Diese hatten bisher eine völlig unzureichende sozialpolitische Fürsorge erhalten durch die Gesindeordnungen, welche nicht bloss in den einzelnen Staaten Deutschlands, sondern auch in den einzelnen Provinzen unter sich sehr verschieden und auf alle Fälle unzulänglich waren. Von grosser Wichtigkeit ist sodann die Hereinbeziehung der land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter, die bisher nur fakultativ durch Landesgesetz oder Statut versichert werden konnten. Tatsächlich ist von diesen Ermächtigungen nur ein ganz geringer Gebrauch gemacht worden. Es ist auch politisch nunmehr von der grössten Bedeutung, dass die landwirtschaftlichen Arbeiter organisiert werden. Mag diese Organisation auch eine zunächst mangelhafte sein, so wird sie doch politisch auszuwirken nicht verfehlen. Sodann kommen als versicherungspflichtig noch hinzu die sog. unständigen Arbeiter, welche der Natur der Sache nach oder auf Grund eines Vertrages kürzere Zeit als eine Woche beschäftigt sind, dann diejenigen, die im Wandergewerbe tätig werden. Nicht zuletzt ist aber noch wichtig, dass auch die Hausgewerbetreibenden mit einbezogen sind, d. h. diejenigen Personen, welche zwar nach der juristischen Kategorie Arbeitgeber, nach der wirtschaftlichen aber kaum mehr als Arbeiter sind. So erweitert sich der Kreis der gegen Krankheit Versicherten ganz enorm, die sozialpolitischen Lasten werden erhöht, aber auch die Segnungen vertieft und erweitert.

Nicht minder gehört zu der Reform der Krankenversicherung, dass der Versuch gemacht worden ist, einer parteipolitischen Ausbeutung der Kasseneinrichtungen entgegenzutreten. Die Arbeitgeber haben eine etwas grössere Macht erhalten, doch ist andererseits dafür gesorgt, dass die sozialpolitischen Leistungen nicht geschmälert werden.

Die Vielheit der Kassenarten ist geblieben; allerdings wurde die Gemeindekrankenversicherung beseitigt. Es war dies eine Organisationsform, die die Gemeinde als Inhaberin der Kassenrechte und -Verpflichtungen erscheinen liess, aber die geringsten Leistungen gewährte und auch Zuschüsse von der Gemeinde nötig machte. Anstelle dieser Kassenart sind aber die Landkrankenkassen eingefügt worden, in welche aufgenommen werden die in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben, im Wandergewerbe, in der Hausindustrie usw. beschäftigten Personen. Das Selbstverwaltungsrecht ist in der Landkrankenkasse über Gebühr eingeschränkt worden. Man kann hier nicht von einer besonders glücklichen Lösung des Problems reden.

Als der Haupttypus wird die Ortskrankenkasse anzusehen sein, während die Betriebskrankenkasse vom Gesetz zwar geschont worden ist, aber dennoch nur als eine sekundäre Einrichtung in Betracht kommt. Die Baukrankenkassen sind als solche beseitigt und bilden nur eine Abart der Betriebskrankenkassen. Doch blieben noch ferner erhalten die Knappschafts- und Innungskrankenkassen, während die freien Hilfskassen als solche mit dem 1. Juni 1912 aufgehoben wurden und nur als Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit nach Massgabe des Versicherungsaufsichtsgesetzes v. 12. Mai 1901 weiterbestehen können. Damit haben sie eine Unterstellung unter die Aufsicht des Reiches erfahren. Vielfach vorhandenen schwindelhaften Unternehmungen wird damit entgegengewirkt. Als Ersatzkassen müssen die Versicherungsvereine bestimmten Voraussetzungen (§§ 503 ff.) genügen. Die Mannigfaltigkeit der Organisation ist auf die historische Entwicklung und darauf zurückzuführen, dass den verschiedensten Formen der Arbeiterorganisationen Genüge geschehen sollte. Von weiteren Reformen des Krankenversicherungsrechtes wird weiter unten zu reden sein.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/46&oldid=- (Version vom 7.11.2021)