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aber hier die Landeszentralbehörde bestimmen soll, was zur Förderung sich eignet, scheint nicht unbedenklich, weil hier vielleicht eine rücksichtslose Behandlung bezüglich der als parteipolitisch angesehenen Kongresse denkbar ist.

6. Die Ärztefrage bedarf besonderen Eingehens. Der Kampf um die Arztsysteme ist alt. Als im Jahre 1883 das Krankenversicherungsgesetz eingeführt wurde, dachte niemand an die grosse Entwicklung, die das Krankenkassenwesen sehr bald nehmen würde und genommen hatte. Es war zur Zeit der Entstehung des Krankenversicherungsgesetzes von keiner, auch nicht von ärztlicher Seite das Prinzip der freien Arztwahl als das allein oder hauptsächlich mögliche oder notwendige betont worden. Nachdem man jedoch seine Erfahrungen mit diesem System, insbesondere in finanzieller Beziehung, zum Schaden der Kassen gemacht hatte, hat die Novelle vom 10. April 1892 eine Vorschrift in das Krankenversicherungsgesetz gebracht, wonach die Kasse beschliessen kann, dass ärztliche Behandlung nur durch bestimmte Ärzte zu gewähren ist, und die Bezahlung der durch Inanspruchnahme anderer Ärzte entstandenen Kosten, von dringenden Fällen abgesehen, abgelehnt werden kann (§§6a Abs. 1 Z. 6, 26a, Abs. 2 Z. 2b K.V.G.). Auf diese Weise war es möglich, das Kassenarztsystem einzuführen. Es ist jedoch dafür gesorgt worden, dass die Kasse nicht in der Lage ist, zum Nachteil der Versicherten die ärztliche Hilfeleistung etwa durch eine geringe Zahl oder durch ungeeignete Ärzte einzuschränken. Zu den gesetzlichen und statutenmässigen Obliegenheiten gehört auch die ärztliche Versorgung und die Aufsichtsbehörde überwachte nach § 45 K.V.G. die Befolgung dieser Vorschriften nicht nur, sondern sie konnte, wenn die Kasse die Erfüllung ihrer gesetzlichen oder statutenmässigen Einrichtungen verweigert, die Befugnisse und Pflichten der Kassenorgane selbst wahmehmen. Dass diese Übernahme der Organfunktionen, also die zeitweilige Ausschaltung des Selbstverwaltungsrechtes der Kassen, mehrfach zur Wirklichkeit geworden ist, dürfte als bekannt vorausgesetzt werden. Aber auch sonst hat die Aufsichtsbehörde eine weitgehende Befugnis und Möglichkeit, in die Fragen der ärztlichen Versorgung auch schon nach bisherigem Rechte einzugreifen. Insbesondere ist in § 56a K.V.G. bestimmt gewesen, dass auf Antrag von mindestens 30 beteiligten Versicherten die höhere Verwaltungsbehörde nach Anhörung der Kasse und der Aufsichtsbehörde die Gewährung der ärztlichen Leistungen durch weitere, als von der Kasse bestimmte Ärzte, Apotheken und Krankenhäuser verfügen kann, wenn durch die von der Kasse getroffenen Anordnungen eine den berechtigten Anforderungen der Versicherten entsprechende Gewährung jener Leistungen nicht gesichert ist. Wird einer solchen Verfügung nicht binnen der gesetzten Frist Folge geleistet, so kann die höhere Verwaltungsbehörde die erforderlichen Anordnungen statt der zuständigen Kassenorgane mit verbindlicher Wirkung für die Kasse treffen.

Der Entwurf von 1910 bot, neben einer sorgfältigen Wahrung der Parität in bezug auf das Recht der Kassenvorstände, allgemeine oder besondere Verträge zu schliessen, durch Zulassung eines weitgehenden Arbeitstarifvertrages den Ärzten einen bedeutenden Vorteil. Die geradezu ängstlich zu nennenden Vorsichtsmassregeln, welche der Entwurf bezüglich der Herstellung eines allgemeinen Arztvertrages brachte und alle die Bestimmungen, welche die Einsetzung und die Aufgaben des Vertragsausschusses betrafen, zeigten das weitgehende Entgegenkommen und den überaus friedfertigen Charakter dieser Bestimmungen. Auch das, was über die Regelung von Streitigkeiten verordnet war, konnte nur als ein Zeichen des versöhnlichen Charakters dieser Vorschriften gelten. Sicherlich hatten die Krankenkassen weniger Anlass zur Befriedigung über diese Bestimmungen, als die Ärzte. Aus allen Anläufen zur Reform ist aber in bezug auf die Ärztefrage recht wenig geworden. Der Begriff der „ärztlichen Behandlung“ ist festgelegt, die Systeme der Kassenärzte und der freien Ärztewahl sind als gleichberechtigt anerkannt, auch im übrigen der bisherige Rechtszustand beibehalten worden, soweit nicht aus dem Folgenden sich Neues ergibt.

Wird bei einer Krankenkasse die ärztliche Versorgung dadurch ernstlich gefährdet, dass diese Kasse keinen Vertrag zu angemessenen Bedingungen mit einer ausreichenden Zahl von Ärzten schliessen kann, oder dass die Ärzte den Vertrag nicht einhalten, so ermächtigt das Oberversicherungsamt (Beschlusskammer) die Kasse auf ihren Antrag widerruflich, statt der Krankenpflege oder sonst erforderlichen ärztlichen Behandlung eine bare Leistung bis zu zwei Dritteln des Durchschnittsbetrages ihres gesetzlichen Krankengeldes zu gewähren.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/52&oldid=- (Version vom 7.11.2021)