Seite:Heiligenstädter Testament.pdf/1

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Beethoven an seine Brüder Kaspar Karl und Nikolaus Johann van Beethoven
(„Heiligenstädter Testament“)


[Heiligenstadt, 6. und 10. Oktober 1802]


Erste Seite des Autographs

{An} für meine Brüder Carl und {Leerraum}[1] Beethowen

O ihr Menschen die ihr mich für Feindseelig störisch oder Misantropisch haltet oder erkläret, wie unrecht thut ihr mir, ihr wißt nicht die geheime ursache von dem, was euch so scheinet, mein Herz und mein Sinn waren von Kindheit an für das zarte Gefühl des Wohlwollens, selbst große Handlungen zu verrichten dazu war ich immer aufgelegt, aber bedenket nur daß seit 6 Jahren ein heilloser Zustand mich befallen,[2] durch unvernünftige Ärzte verschlimmert, von Jahr zu Jahr in der Hofnung gebessert zu werden, betrogen, endlich zu dem überblick eines daurenden Übels das (dessen Heilung vieleicht Jahre dauren oder gar unmöglich ist) gezwungen, mit einem feurigen Lebhaften Temperamente gebohren selbst empfänglich für die Zerstreuungen der Gesellschaft, muste ich früh mich absondern, einsam mein Leben zubringen, wollte ich auch zuweilen mich einmal über alles das hinaussezen, o wie hart wurde ich dur[ch] die verdoppelte traurige Erfahrung meines schlechten Gehör’s dann zurückgestoßen, und doch war’s mir noch nicht möglich den Menschen zu sagen: sprecht lauter, schreyt, denn ich bin Taub, ach wie wär es möglich

  1. An drei Stellen in dem Dokument ist anstelle eines Namens ein Leerraum gelassen. Beethoven gibt nur den Namen seines Bruders Kaspar Anton Karl (1774–1815) an und lässt den von Nikolaus Johann (1776–1848) aus. Womöglich war er im Zweifel, welchen Rufnamen er verwenden sollte, beide Brüder hatten nach ihrer Übersiedelung nach Wien ihre Rufnamen geändert: Karl Kaspar, ursprünglich Kaspar, nun Karl; Nikolaus Johann, ursprünglich Nikolaus, nun Johann. Vielleicht ist es aber auch ein Hinweis auf das gespannte Verhältnis zu Nikolaus Johann, den er einen „Pseudo-Bruder“ nannte.
  2. gemeint ist seine Ertaubung, deren Beginn nicht genau feststellbar ist. Beethoven äußert sich dazu in Briefen an Franz Gerhard Wegeler (29.6. und 16.11.1801) und an Carl Amenda (1.7.1801).
Empfohlene Zitierweise:
Ludwig van Beethoven: Heiligenstädter Testament. off, off 1802, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Heiligenst%C3%A4dter_Testament.pdf/1&oldid=- (Version vom 1.8.2018)