Am Stammtisch im „Turm“ traf ich abends wieder mit Toni Bender zusammen. Er lachte mich freundlich an. Ich schnitt ihn.
Die Schiffahrt gab dem Stammtisch seinen Charakter. Ein kunstvoll gearbeiteter Anker aus Messing lag in der Mitte. Die Kapitäne und Steuerleute trafen sich hier. Alles famose, liebe Menschen.
Über berufliche Dinge und Tagesfragen wurde debattiert. Eine gewisse Hitze oder Leidenschaftlichkeit, die sonst im allgemeinen derartigen Stammtischunterhaltungen anhaftet, kam hier nicht so recht auf, denn meistens war schon spätestens um halb zehn Uhr die Mehrzahl der Mitglieder der Tafelrunde eingeschlafen. Es kam sogar vor, daß Toni Bender und ich allein als letzte Überlebende am Tisch saßen.
Bis elf Uhr blieb man in der Regel so angeregt schnarchend beisammen, dann rieb man sich verwundert die Augen, trank seinen Schoppen leer und ging höchst befriedigt von dem unterhaltsamen Abend auseinander.
Ich wandte einmal schüchtern ein, daß es sich doch eigentlich zu Hause viel bequemer schlafen lasse. Da kam ich aber schlecht an. Man wolle auch seine Zerstreuung, sein Vergnügen haben, wenn man den ganzen Tag, von morgens um vier Uhr ab, hart gearbeitet habe. Das leuchtete mir ein. Warum man aber auch schon so früh anfange? Die Schiffe könnten doch auch zu einer anständigen Zeit, vielleicht so gegen elf Uhr, abfahren, bemerkte ich. Davon verstünde ich nichts, hieß es.
An dem Abend von Frau Muhlmanns Geburtstag war der Stammtisch sehr gut besucht. Es ging lebhafter zu als gewöhnlich.
Hermann Harry Schmitz: Buch der Katastrophen. Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1916, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_Harry_Schmitz-Buch_der_Katastrophen-1916.djvu/022&oldid=- (Version vom 1.8.2018)