Beethoven
Der Vater hatte natürlich nicht die geringste Ahnung, wie Beethoven ausgesehen hat.
Die Mutter wußte es auch nicht.
Er war Mitglied des Gesangvereins „Organ“. Er sang nicht besonders richtig. Aber man schätzte ihn, weil er fünf Stimmen an Klangfülle ersetzte. Außerdem wußte er sich überall vorzudrängen. Mittwochs kegelte er mit dem Bürgermeister und dem Doktor. Bei Vereinsfestlichkeiten malte er auf Pappdeckel Vivatsprüche, mit Kränzen eingefaßt. Man hielt ihn für ein gewisses Talent und maßgebend in Fragen der Kunst.
Der Lehrer Sebastian Fliegenhut war der Dirigent des Gesangvereins „Organ“. Er war es bereits seit fünfundzwanzig Jahren und hatte jetzt ein Anrecht auf ein sogenanntes silbernes Jubiläum, eine Feier, Geschenke und Papiergirlanden.
Nörgler im Verein behaupteten, es könnten noch keine fünfundzwanzig Jahre sein. Der Küster Igelmund Milz rechnete siebenzehn Jahre aus. Aber die Mehrheit war für das Jubiläum.
Nach langem Hin und Her beschloß man, dem Jubilar eine Beethovenbüste „aufs Klavier“ zu stiften. Man hatte allerdings nur vage und ehrfürchtige Vorstellungen von Beethoven, keiner wußte genau, was eigentlich mit dem Beethoven gewesen war, noch weniger, wie der Beethoven ausgesehen hatte.
Der Vater tat natürlich so, als ob er über Beethoven genau unterrichtet sei. Er warf sich in die Brust, blickte
Hermann Harry Schmitz: Buch der Katastrophen. Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1916, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_Harry_Schmitz-Buch_der_Katastrophen-1916.djvu/117&oldid=- (Version vom 1.8.2018)