einer gerippten Glasscheibe geschlossen. Man sah, wie sich jemand dahinter bewegte, den Arm in Kopfhöhe hob und senkte. Ich stellte mich dicht an das Fenster und bewegte mich hin und her. Dann begann ich nach einiger Zeit laut zu husten und mich zu räuspern. Nach zwei Wochen nahm ich mir endlich ein Herz und klopfte an das Fenster, erst leise, dann heftiger und ging schließlich mutvoll in ein kräftiges Cakewalk-Tempo über. Räng, päng! Das Fenster flog nach oben, und ein wutverzerrtes, schlecht rasiertes Antlitz, mit dem lähmenden Blick der Medusa und Brotkrumen am Kinn ließ mich zusammenklappen und eine metallene Stimme drang schauerlich auf mich ein: „Können sie nicht lesen?“ Räng, päng! Das Fenster wurde wieder zugefeuert.
Es dauerte lange, bis ich wieder zu mir gekommen war. Wäre ich nur an dem ersten Schalter geblieben, ich wäre längst darangekommen! Ich versuchte mein Heil an den anderen, ebenfalls freien Schaltern, wagte aber nur durch Husten meine Anwesenheit auszudrücken. Aber ohne Erfolg, kein Fenster tat sich auf. Verzweifelt war ich von Fenster zu Fenster geeilt, etwa acht Tage lang, als endlich ein Mann mit einer Beamtenmütze und einem Uniformrock, der offen stand und eine Zivilweste aus Cheviot und eine Deckkrawatte sehen ließ, von irgend woher zu mir kam, mich streng anguckte, einen Rotstift hinter dem Ohr wegnahm und mich anschrie: „Können Sie nicht lesen?“ Noch ein strenger Blick traf mich, und der Mann verschwand wieder.
Nachdem ich mich halbwegs gesammelt hatte, bin ich dann reumütig zu dem ersten Schalter geschlichen und habe geduldig gewartet, bis etwa vierzig Menschen
Hermann Harry Schmitz: Der Säugling und andere Tragikomödien. Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig 1911, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_Harry_Schmitz_Der_Saeugling.djvu/108&oldid=- (Version vom 1.8.2018)