vor mir erledigt waren. Darüber vergingen zwei Wochen.
Je mehr ich mich dem Schalterfenster näherte, um so nervöser und aufgeregter wurde ich. Ich wiederholte krampfhaft für mich fortgesetzt die Chiffre.
Eine alte Frau, die vor mir stand und eine Marke kaufen wollte, hatte ihren Groschen fallen lassen und suchte ihn verzweifelt zwischen den Füßen der Leute. Die Stimme aus dem Schalter schrie befehlend: „Der Nächste!“ Das war ich. Ich stotterte los: „En Ka, En Ka, En Ka 72645.“ Scharfe, fragende Augen trafen mich. „En Ka, En, Ka, Ka, Ka,“ ich stotterte, vergaß die Zahl – hinter mir sagte jemand mitleidig: „Ein armer Taubstummer“ – und ich stieß in meiner Not hervor: „postlagernder Brief!“
„Können Sie nicht lesen?“ ertönte das metallene Organ des Mannes am Schalter. Des Mannes Augen quollen aus dem Kopf, die Adern schwollen an zu Würsten, in der Ecke fiel ein Schirm um, irgendwo spielte jemand falsch Klavier, und der Schaltermann brüllte wieder los: „Können Sie nicht lesen? Der Nächste!“ Ich wurde fortgeschoben und stand da wie ein gebrochener Mann.
Da kam eine gute Seele, ein Greis, seines Zeichens Hühneraugenoperateur und Warzenentferner, der mich damals, in meiner Jugend gesehen hatte, wie ich an dem Schalter wartete. Der hat mich auf den Schoß genommen und hat mich getröstet und mich belehrt, postlagernde Briefe holte man am Postamt vier. Das könnte ich auf einem klitzekleinen Plakat dort hinter der Tür lesen.
Ich aber sah in diesem Ungemach auf der Post eine Strafe des Himmels ob meines lasterhaften, nichtswürdigen
Hermann Harry Schmitz: Der Säugling und andere Tragikomödien. Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig 1911, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_Harry_Schmitz_Der_Saeugling.djvu/109&oldid=- (Version vom 1.8.2018)