Alle Herzensbildung, alles feine, altruistische Empfinden geht auf der Eisenbahn in die Binsen.
Man sehe sich nur in der Reisezeit den Sturm auf einen Zug an. Ein Schulbeispiel des Banketrotts jeglicher Erziehung. Eine Orgie entfesselter Leidenschaften. Die Herrschaft des Biceps par exellence. Glieder werden ausgerenkt, wertvolle Roben zerfetzt, Zigarren in den Hals getrieben, hilflose Greise und Frauen und unmündige Kinder zerstampft.
Die Sieger, d. h. diejenigen, denen es gelungen ist, über Leichen in ein Coupé zu gelangen, begegnen einander mit grenzenlosem Haß und betrachten jeden, der Anspruch erhebt, im gleichen Abteil zu sitzen, als ihren schlimmsten Todfeind. Wagt es dann noch irgendein verhetzter Unglücklicher, der vergeblich am ganzen Zug mit weit heraushängender Zunge und stierem Blick nach einem Platz gesucht hat, einzusteigen, um den letzten theoretisch noch freien Sitz einzunehmen, so trifft ihn der solidarische Zorn sämtlicher Coupéinsassen. Man setzt sich so breit man kann, bläht sich unter Lebensgefahr aggressiv auf, dehnt und streckt die Glieder in dem Bestreben, einen möglichst großen Raum mit seinem Ich auszufüllen.
Erst ganz allmählich besinnt man sich wieder auf seine Erziehung. Die gereizte Stimmung brutalen Egoismus macht langsam milderen Gesinnungen kultivierter Lebensart Platz. Man schämt sich und bereut, daß man dem Flegel, der im Grunde genommen in jedem Menschen steckt, mal wieder die Zügel schießen ließ und sucht die auf den Kampf ums Dasein gestimmten Gebärden durch eine unterstrichene Höflichkeit zu verwischen, benutzt das geschlossene oder geöffnete Fenster zur Anknüpfung verbindlicher Gespräche.
Hermann Harry Schmitz: Der Säugling und andere Tragikomödien. Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig 1911, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_Harry_Schmitz_Der_Saeugling.djvu/140&oldid=- (Version vom 1.8.2018)