Zahlenrubrik ein W oder ein L oder ein D oder Gabel und Messer oder ein Fahrrad oder ein Stern, oder die Zahlen hörten mitten in der Kolonne ganz auf. Dann paßten die Stationsnamen nicht zu den Zahlenreihen, weil die eine Seite zu hoch oder zu niedrig geheftet war. Mainz hatte ich dann endlich gefunden, und ich freute mich schon riesig; da merkte ich, daß ich den Dampferfahrplan aufgeschlagen hatte.
Leicht zu finden – ich lachte gellend und verfluchte alle Eisenbahnen, alle Kursbücher, alle Sommerfrischen, mich selbst, Edeward und wer mir noch gerade einfiel.
Dann hatte ich Mainz nun wirklich, fand auch Karlsruhe irgendwo ganz hinten, verblätterte dann die Seite mit Mainz wieder, wußte nicht mehr, ob ich links- oder rechtsrheinisch nachgesehen hatte, verlor dann auch noch Karlsruhe wieder und fand zum Schluß überhaupt gar nichts mehr. Die dicken Tränen standen mir in den Augen. Dann raffte ich mich auf und griff zu einem Kursbuch, speziell für Süddeutschland. Da war wieder Köln und Mainz nicht zu finden. Ich ging vorsichtig von Karlsruhe aus, alles klappte bis ein Pfeil in eine Nebenrubrik zeigte, und alles war wieder verloren. Ich schrieb ganze Zahlenkolonnen ab, ich blätterte wie im Wahnwitz, griff immer zu neuen Kursbüchern, steckte meine sämtlichen zehn Finger als Lesezeichen in die Bücher, stierte mit weit aus dem Kopf stielförmig hervortretenden Augen in das Zahlenchaos und murmelte mechanisch: „Köln, Bonn, Remagen, Bingerbrück, Mainz, Mainz, Mainz…"
Ich dachte ernstlich an Selbstmord.
Hermann Harry Schmitz: Der Säugling und andere Tragikomödien. Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig 1911, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_Harry_Schmitz_Der_Saeugling.djvu/196&oldid=- (Version vom 1.8.2018)