An einem Schreibtisch, so groß wie das Fürstentum Reuß, saß ein hagerer, glatt rasierter Mann mit blitzenden, stechenden Augen. Sein Alter war schwer zu taxieren. Er konnte seine dreißig sein, mit der gleichen Möglichkeit indessen mochte er auch fünfzig oder sechzig Jahre auf dem Rücken haben.
Seine schmale, ein wenig krampfige, natürlich elfenbeinweiße Hand, deren Zeigefinger mit einem grünen Malachitring geschmückt war, wies stumm auf einen roten Saffianledersessel, in dem ich ein wenig verschüchtert Platz nahm.
„Ihr Urgroßvater starb an Altersschwäche, Ihre Großmutter am Knochenfraß, der Mann, der neben Ihnen wohnte, am Delirium, eine Waschfrau Ihrer Eltern an einem Magenleiden. Bei Ihrem Fall kommt ohne Zweifel eine Prädisposition, direkte Heredität in Frage,“ begann er mit leiser, verschleierter Stimme, und seine Augen prüften mich scharf und durchdringend.
„Sie haben etwa 40 Halsweite, Reife für Unterprima, eine Freimarkensammlung, sind glattrasiert und haben eine schwere Lungensache,“ fuhr dieser unheimliche Mensch fort; „ja, eine schwere Lungensache. Ich sage meinen Patienten stets die Wahrheit. Ich hoffe, Sie sind Philosoph, Fatalist. Finden Sie sich mit Ihrem Schicksal ab. – Sie kennen meine Taxe?“ warf er in einem andern Tonfall plötzlich ein.
Ich griff bebend nach meinem Scheckbuch und fragte devot: „Wieviel?“
„Drei,“ war die lakonische Antwort.
Ich klappte mein Scheckbuch zu und suchte in meinem Portemonnaie, hocherfreut über den geringen Honorarsatz, nach drei Franken.
Hermann Harry Schmitz: Der Säugling und andere Tragikomödien. Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig 1911, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_Harry_Schmitz_Der_Saeugling.djvu/218&oldid=- (Version vom 1.8.2018)