Vor dem Abendessen trafen sich die Patienten im Lesezimmer zum Plauschestündchen (kostete extra). Man erzählte sich umständlich von seinen Leiden, und Frohsinn und trautes Behagen herrschte in dem, wie alle für die Gäste bestimmten Räumen recht ungemütlichen Lesesaal, der aus hygienischen Gründen, um eine radikale Abhärtung durchzusetzen, feucht und zugig war.
Nach einer weiteren Woche bat Nulpe, man möge ihn an den Tisch der ein wenig Blöden setzen.
Es wurde täglich schlimmer mit seinem Zustand. Eine bedenkliche Reizbarkeit zeigte sich bei jeder Gelegenheit.
Eine harmlose Szene hatte schreckliche Folgen. Die taube Witwe eines Schlachtenmalers hatte ihm gegenübergesessen. Er hatte sie in der Unkenntnis ihres Gebrechens so obenhin gefragt, ob sie schon früher in „Bizepsheil“ gewesen wäre.
„Im vergangenen Jahr stand das Grumt um diese Zeit besser,“ bekam er zur Antwort.
„Ich meine, waren Sie schon mal in dieser Anstalt?“ wiederholte Scharleß seine Frage.
„Gestern sah es nach Regen aus,“ war jetzt die Entgegnung.
„Machen Sie schon lange die Kur hier und merken Sie einen Erfolg?“ brüllte jetzt Scharleß plötzlich los.
„Ja, es ist ein feuchter, ein recht ein feuchter Sommer,“ bekam er zu hören.
Eine wahnsinnige Wut kam über Nulpe. Er sprang auf und boxte der Witwe des Schlachtenmalers in das Auge.
Mit jedem Tag wurde es schlimmer mit ihm. Er litt gräßlich unter der Diät. Seine Seife, zwei Tuben Zahnpasta, ein Paar Glacéhandschuhe, vier Bleistifte,
Hermann Harry Schmitz: Der Säugling und andere Tragikomödien. Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig 1911, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_Harry_Schmitz_Der_Saeugling.djvu/231&oldid=- (Version vom 1.8.2018)