Der heutige Sonntag, den meine fränkische Heimat den Sonntag vom guten Hirten nennt, heißt uns in einer Zeit, da man, mit dem alten Sarcerius zu reden, für einen Hirten nach Gottes Herzen wohl Arm und Auge geben kann, auf den sehen, der ein Vorbild gegeben, sein ganzes Wesen in ein schlichtes und doch so lichtes Bild gefaßt hat, daß wir nicht nur von dem guten, sondern mit dem Hebräerbriefe von dem großen Hirten reden (13, 20), der in seiner Treue, die das Kleinste groß und bedeutsam und das Größte der Liebe gering sein ließ, für alle Hirten Muster und Meister geworden ist. Er allein und er zuerst hat als eigentliche, alle Kraft anstrengende und alle Erfordernisse umfassende Tugend die Treue geübt und gezeigt. Und ihm nach gehen die Knechte, die Führer und Berater, die auf rechter Straße führen.
Es ist unserer Kirche fast zu wenig angelegen, dieser Führer und Väter, obgleich sie dazu durch Bibelwort und Bekenntnis gemahnt ist, recht zu gedenken, wie aus der Angst, Menschenkultus zu treiben und zu hoch von den Werkzeugen, zu gering von dem zu denken, der sie gebraucht hat. Es ist aber auch der Mangel an geschichtlichem Sinne, der nichts zu lernen vorhat und die Gegenwart, wie vom Dank gegen die Vergangenheit, so von der Verantwortung vor der Zukunft freizuhalten und ganz auf sich selbst zu stellen bestrebt ist. Wir aber wollen in dieser Stunde von den Nöten und Fragen, Bedürfnissen und Sorgen des gegenwärtigen Weltkrieges uns in vergangene Zeiten führen lassen, die auch ihre eigene Plage hatten und diese Plage für uns überwanden, und am Sonntag vom guten Hirten eines Mannes gedenken, der „eine Zeitlang selbst in Württemberg vergessen
Hermann von Bezzel: Albrecht Bengel. Verlag der Evang. Gesellschaft, Stuttgart 1916, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Albrecht_Bengel.pdf/3&oldid=- (Version vom 9.9.2016)