Seite:Hermann von Bezzel - Die zehn Gebote.pdf/138

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autoritätslose Geschlecht. Aber doch ermahnen wir herzlich: laßt das Drohen und Wettern! Wisset, daß ihr alle einen Herrn im Himmel habt und bei dem ist kein Ansehen der Person. Seht, wo ist die christliche Dame, die glaubt, daß im Herzen ihrer Dienerin dieselben Nöte, Sorgen und Fragen sich regen wie in ihrem eigenen? Seid ihr nicht der Meinung, daß das Gefühls- und Empfindungsleben eueres Dienstboten um etliche Grade tiefer steht wie euer eigenes? Glaubt ihr nicht, daß manche Fragen bei eueren Dienstleuten gar kein Verständnis fänden, während ihre Seele nach Verständnis schreit? Ich meine, darin liegt ein großer Teil zur Lösung der sozialen Frage, die unsere Zeit beherrscht und zu verschlingen droht, daß ich unter den Untergebenen dieselben Sünden und dieselben Sorgen wie bei mir erblicke und mich dann – nicht in sie hineindenke, nicht mich in sie hineinversetze – sondern mich in sie hineinlebe. Es ist doch ein sehr bedenkliches Zeichen der Zeit gewesen, wenn ein bekannter Geistlicher, der nun ganz zur Sozialdemokratie überging, drei Monate Fabrikarbeiter werden mußte, um wirklich zu wissen, wie es einem Fabrikarbeiter zumute ist; oder ein anderer ein Jahr lang am Kaiser-Wilhelm-Kanal arbeitete, um zu fühlen, wie es einem Kanalarbeiter zu Sinne sei. Das ist nicht christlich; das ist in meinen Augen töricht. Wir können nicht all die sozialen Lagen durcharbeiten, damit wir uns in den Sinn solcher Arbeiter hineindenken können. Aber in das Herz des Arbeiters und in sein Leben, in seine Ängste und Nöte und Sorgen und Sünden, in seine berechtigten Wünsche können wir uns hineinleben und hineinbeten. Darum: Dienstbotennot = Herrschaftsnot!

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 Und das dürft ihr glauben, so bald wir, die wir irgendwie Dienstleute haben, bei uns selber mit der Heiligung ernstlich beginnen, werden wir merken, nicht wie die andern sich bessern, sondern wie sie leichter zu ertragen sind. Und