Seite:Hermann von Bezzel - Die zehn Gebote.pdf/201

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Phantasie deucht, der wisse, das ist göttliche Phantasie. Und in einer Predigt über 2. Tim. „Halt im Gedächtnis Jesum Christum“, hat der selige Immanuel Nitzsch hingewiesen auf die Herrlichkeit der Phantasie für das Alter. Nicht wahr, wenn nun die äußeren Eindrücke verbleichen, wenn wir sie nicht mehr aufnehmen können und nicht mehr aufnehmen wollen, wenn die Menschen an unserer Türe vorübergehen, weil sie uns nichts mehr geben können und wir ihnen nichts mehr geben wollen innerlich, dann ist es die zurückdenkende Phantasie, welche uns in die Tage der Jugend versetzt, da eine Mutter uns bei der Hand nahm und durch das Ährenfeld führte und des Frühlings Pracht und die Schönheit des Sommers uns zeigte, dann vielleicht ihre Lieblingslieder uns lehrte und uns sagte, wie gnädig der Herr sei. Wir sind seitdem alt und grau geworden, aber so oft wir durch das Ährenfeld und das blühende Gefilde schreiten, zeigt uns die rückwirkende Phantasie die Mutter, läßt uns ihre Stimme hören; wir gehen an ihrer Hand und warten, bis sie uns zum letzten Male rufen wird, nicht zwar in den Frühling dieser Welt, sondern, wie wir beten und wünschen, in den Frühling der Heimat. Und je mehr ein Mensch Gnade und Vergebung, teurer Menschen Zusprache, viel Gutes und viel Trost erfahren hat, desto mehr füllt die rückschauende Phantasie die langen Nächte, in denen er nicht mehr viel Schlaf findet, und die einsamen Tage gnadenvoll und schön aus. Er ist nicht allein, die heilige Phantasie besucht ihn. Und wenn unsere heranwachsende Jugend in der Phantasie sich eine Welt ausmalt, die ja nie eintreten wird, aber wie man sie sich eben denken darf: wie sie einmal geehrt und angesehen sein werden und arbeiten wollen, wie sie ihr bescheidenes Heim ausschmücken, Vater und Mutter viel Liebes und Gutes erweisen, wie sie im Heimatdorf dort eine kleine Verbesserung und im heimatlichen Garten hier eine kleine