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ungelöste Fragen und die Ungereimtheit des Lebens: die antike Kunst hat dem großen König ein Bild geschaffen, über das man schreiben möchte: Du großer Schmerzensmann, etwa dem Bilde auf dem Titelblatt der kleinen Holzschnitt-Passion Albrecht Dürrers vergleichbar. Am Eingang alttestamentlicher Volksgeschichte der gewaltige Mann, in dessen Darstellung ein Michel Angelo versagte, mit dem furchtbaren Ernste auf dem Antlitze, in das Lebensrätsel und Sterbensweh ihre Merkzeichen geprägt haben: Das macht dein Zorn, daß wir so vergehen wie der Sand unter dem Schritt des Wanderers verrauscht und die Welle eilig vorüberzieht. Auf der Höhe seiner Geschichte sieht Israel den Propheten Jeremias mit der Klage über den Tag seiner Geburt, über die Zerstörung alles Gegründeten und über die Vernichtung alles Gepflanzten, und am Ausgang der alten, am Tor der neuen Zeit werden die Leidtragenden selig gepriesen. Wer die Schriften alle zählen könnte, die das Mittelalter über das Leid der Welt uns hinterlassen hat, die Klagen in Bild und Wort, in Sang und Dichtung messen möchte, die bittere Ironie seiner Totentänze, da auch die Blumen schließlich um Totenschädel sich ranken und in die franziskanische Lebensfreude des Sonnenhymnus das markerschütternde dies irae des Franziskanermönchs hineinbraust. Otto III. am Grab Karls des Großen, wie ihn Meister Kreling im Germanischen Museum darstellte, der Jüngling, dem das Szepter entgleitet, vor dem Leichnam, dem auch die größte Macht nimmer Glück ist, dazu die Wehklage über die täuschende Welt, die außen licht und frisch, doch innen schwarzer Farbe, finster wie der Tod ist, die dem törichten Mann mit Sälde und Glück zu lohnen verheißt und ihm Asche und Trug ins Leben höhnend wirft. Weit über das graue herbstliche Feld schreitet der Mensch, betrogen und getäuscht, voll Unlust zu leben und doch voll Angst zu sterben. Shakespeare, der Dichter des Gewissens, ist auch der Dichter des Leids und Goethes Faust stirbt, von Reichtum und Macht umgeben, von Weisheit und Erkenntnis nicht befriedigt, müde von Enttäuschung. – Leid ist des Lebens Kern: das ist nicht das weltfremde Wort des Dominikanermönchs zu St. Marko, das ist vielmehr die Gesamterkenntnis der Menschheit, soweit sie denkt. Wer aber nicht denkt, der hat das Recht zum Leben verwirkt.

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 Nur über Grund und Heilung des Leids geht die Meinung der Menschen nicht einig: die tiefste Meinung aber

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Hermann von Bezzel: Passionsgedanken. Verlag der Buchhandlung des Vereins für innere Mission, Nürnberg 1916, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Passionsgedanken.pdf/5&oldid=- (Version vom 10.11.2016)