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ist über beiden der schlichte Glaube der Christen, der am tiefsten in die Abgründe sieht, weil er am höchsten über Abgründe blicken kann und schauen darf.

 Hat der Mensch sich zuviel versprochen und deshalb die Enttäuschung verschuldet, ja verwirkt? Erwartet er von den Verhältnissen, was nur das Verhalten geben kann und von Umständen, was nur der Wille schafft? Ist der Gedanke an Glück, das von außen her an uns kommen soll, nur ein Selbstbetrug, da doch im Herzen des Schicksals Sterne ruhen? Aber woher kommt ein Gedanke an etwas unausdenkbares Großes, woraus erwächst das Verlangen nach Dingen, die kein Auge gesehen und kein Ohr gehört und noch kein Menschenherz ausgedacht hat, weil es für die Weite zu eng und für die Größe zu schwach und arm war? Ist nicht der Gedanke an Glück der Beweis des Glücks und das Verlangen nach ihm das Zeugnis für dessen Existenz? Warum reden die einen von einem verlorenen, sehnen sich die anderen nach einem kommenden goldenen Zeitalter? Warum die allgemeine Uebereinstimmung, daß das Sosein nicht das wahre Sein und das Leben nicht das hält, was es verspricht? Gott hat dem Menschen die Ewigkeit ins Herz gegeben, sagt tiefsinnig die alttestamentliche Weisheit. Sie auszukosten und von ihr zu leben, sie für die Zeit, die Zeit für sie zu bereiten sollte das Glück sein. Denn in der gottgeschenkten, nicht in einer aus Zufall gebornen, endlosen und ziellosen Ewigkeit liegt die Grenze und die Wahrheit der Zeit, die Kraft und die Wirklichkeit der Pflicht, das Wesen aller Dinge an sich, nach dem die Erscheinung geregelt und an dem sie gemessen werden kann. Ja, das ist völliges Glück: die Gabe des Gottesherzens und die Empfänglichkeit des Menschenherzens zusammenklingend, zusammenstimmend! Mühereiche, aber lohnvolle Arbeit, in ihr selbst und in ihrem Vollzuge reichster Friede, zwei Mächte suchen sich, Vater und Kind: ich gab dir Mich in’s Herz. So gib du Mir dein Herz! Mit jeder Mühe wird der Blick weiter und das Auge freier, die Höhe reicher und die Tiefe sonniger, die Stunde bedeutsamer und die Ewigkeit menschlicher: der Mensch lebt von Gott und Gott in ihm.

 Aber nicht „als Wahn der Theologen, die uns von jeher angelogen“, wie Ludwig Feuerbach meint, sondern als tiefernste Wahrheit geht es durch die Erkenntnisse der Denker und durch die Lieder der Dichter, durch idealisierende Umschreibung

Empfohlene Zitierweise:
Hermann von Bezzel: Passionsgedanken. Verlag der Buchhandlung des Vereins für innere Mission, Nürnberg 1916, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Passionsgedanken.pdf/6&oldid=- (Version vom 10.11.2016)