wüßte, die so rein und schwermüthig, so sehnsuchtsvoll und köstlich ist, wie diese Sommernacht.“
„Ich weiß eine solche!“ sagte da langsam Herr Paul, der bisher stumm dagesessen, im tiefen Schatten hinter der Thür. „Die Frage ist nur, ob ich nicht allen Schmelz von diesem Abenteuer streife, indem ich es erzähle. Jedenfalls hab’ ich nie ein besseres erlebt.“
„Ein eigenes Erlebniß?“ stöhnte Fritz in komischem Entsetzen; „das pflegt lange zu dauern!“
„Willst Du wohl, Du Schlingel!“ … schrie der Hausherr. „Bitte, lieber Freund, beginnen Sie! Wir werden gläubig lauschen.“
„Ich beginne.“
„Wahrheit und Dichtung!“ schaltete Fritz zum letzten Male ein.
„Nur Wahrheit, lieber Fritz! Sie werden gleich sehen. … Vor zehn Jahren war es. Am Pfingstsonntag kam ich von Baden-Baden nach Straßburg, spät in der Nacht. Am nächsten Morgen wollte ich weiter, nach Paris. Schwer ermüdet kroch ich ins Bett und verschlief richtig den Pariser Eilzug. Ich kam auf den Bahnhof, als eben der letzte Waggon zur Halle hinausrollte. Der ganze Tag war verloren. Nach Frankreich ging an diesem Tage nur noch ein Bummelzug, und der nicht weiter als bis Nancy. Erbittert kehrte ich in die Stadt zurück, die ich schon von früher kannte, in der ich nichts zu suchen hatte. Als ich aber die feiertäglich langweiligen Straßen im heißen Sonnenschein auf und ab schritt, kam eine solche Verzweiflung über mich, daß ich nicht bleiben konnte. So bestieg ich denn gefaßt den Bummelzug und erreichte noch vor Sonnenuntergang Nancy.
Diese Stadt überraschte mich in der liebenswürdigsten Weise. Nancy ist eine helle, luftige, lustige Stadt, durchschwirrt
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/107&oldid=- (Version vom 1.8.2018)